Schicksal oder Zufall

Am 25. November 2023, um 18:50 Uhr bemerke ich, als ich den Kirchturm der Marienkirche Osnabrück besteigen möchte, dass mein Portemonnaie verschwunden ist. Ich hatte es in meiner seitlichen Manteltasche über den Osnabrücker Weihnachtsmarkt getragen. Zuletzt hatte ich es 15 Minuten zuvor auf dem Marktplatz vor dem historischen Rathaus in der Hand gehalten. Ungewohnt, hatte ich in der Manteltasche auch ein Paar Handschuhe gestopft. War das Portemonnaie aus der Jackentasche gefallen? War es im dichten Treiben geklaut worden? In meinem Portemonnaie befanden sich auch alle denkbaren Ausweise, Geldkarten, quasi mein Leben. Eine surreale Situation.

Ich frage bei einigen Buden nach, ob ein Portemonnaie abgegeben worden ist, breche dann aber ab, um zunächst die ganze Strecke abzugehen, die ich seit dem Verlust gegangen war, in der wagen Hoffnung, dass mir a) das Portemonnaie tatsächlich verlorengegangen und b) liegengeblieben ist. Ich eile durch einige Altstadtstraßen, laufe durch das Heger Tor, über die Kreuzung vor dem Heger Tor und nehme schließlich die Treppenstufen, die auf das Heger-Tor führen, wie bereits eine halbe Stunde zuvor.

Auf dem Heger-Tor steht eine Familie. Mutter, Vater, zwei junge erwachsene Töchter. Sie halten ein Portemonnaie in der Hand. "Haben Sie ein Portemonnaie gefunden?" "Sind Sie ...?"

Sie hatten mein Portemonnaie zehn Minuten zuvor auf den Treppenstufen entdeckt. Es ist mir beim Aufstieg aus der vollen Manteltasche gerutscht. Sie hatten bereits meine Festnetznummer gegoogelt, versucht meine mobile Telefonnummer über den ADAC herauszufinden, der Ihnen aber aus Datenschutzgründen keine Auskunft geben wollte. Sie wollten gerade das Heger Tor verlassen. Ein Gefühl der Euphorie durchströmte meinen Körper. Ich war der Familie unendlich dankbar.

Seit dem Abend befindet sich meine mobile Telefonnummer gut lesbar in meinem Portemonnaie.​

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Eine Kollegin erzählte mir diese Woche in unserem Teamraum, dass sie einen steifen Nacken hätte. Ich erzählte ihr davon, dass sich wahrscheinlich durch Zugluft bei einer Streichaktion im Mai 2004 meine Nackenmuskulatur in der Folge derartig verkrampfte, dass der Blutfluss in einer meiner Blutadern dermaßen gedrosselt wurde, dass mein Ohr nicht mehr mit ausreichend Sauerstoff versorgt wurde. Ich konnte dadurch keine Töne im tiefen Frequenzbereich wahrnehmen. Helle Stimmen klangen normal, Männerstimmen wie metallisch-sprechende Roboter. Wie auch immer, durch Cortisongaben meines Hausarztes weitete sich meine Ader und mein Hören normalisierte sich wieder. Für ein paar Tage musste ich Tabletten gegen den Hörverlust einnehmen.

Mit diesen Tabletten im Gepäck trat ich nach dem Wochenende vor 20 Jahren eine Berufsfindungswoche mit drei Klassen an. Da die eigentliche Klassenlehrerin der dritten Klasse durch eine Knieoperation ausfiel, hatte ich ihre Vertretung auf der Fahrt übernommen. Wir drei Lehrer*innen hatten nicht viel zu tun. Über Tag arbeiteten externe Kräfte mit unseren Schüler*innen der Jahrgangsstufe 9, wir hatten lediglich Aufsichtspflichten. In der Mittagszeit gab es täglich ein Feedback durch den Leiter, der ein Pater war. Am dritten Tag macht uns dieser darauf aufmerksam, dass nach seiner Beobachtung sechs unserer Schüler*innen Haschisch konsumieren, es betraf die Klassen meiner Kollegin und meines Kollegen.

Die entsprechenden Schüler*innen wurden in den nächsten Stunden durch meine Kollegen vernommen. Demnach hat einer unserer Schüler gleich am ersten Abend während eines gemeinsamen Rundgangs durch die Stadt, die uns beherbergte, Kontakt zu einem lokalen Dealer aufgenommen. Die Übergabe des Haschisch fand im Dunstkreis unserer Unterkunft statt. Der Schüler verkaufte die erstandene Ware an fünf Mitschüler*innen. Nachdem die Abläufe bekannt war, wurden die Eltern der betroffenen Schüler*innen ab den Abendstunden telefonisch informiert und durch diese nach und nach abgeholt. Der Anfahrtsweg betrug eine knappe Stunde. Ich beaufsichtige währenddessen die drei Klassen.

Um 23:00 Uhr reiste der letzte Vater an, Vater des schulinternen Dealers. Der Vater betrat den Raum, indem sein Sohn auf einem Stuhl sitzend wartete. Der Vater sagte kein Wort, ging auf seinen Sohn zu und schlug diesen ohne Vorwarnung mit voller Wucht ins Gesicht. Blut tropfte vom Gesicht des Schülers auf den Teppich.

Mein Kollege redete eine Stunde auf den Vater ein, bis er das Gefühl hatte, beide in einem Auto die Heimreise antreten zu lassen. Gegen Mitternacht fuhren beide gemeinsam nach Hause.

Ich erzählte meine Kollegin auch diese Geschichte. Danach stand ich auf, um einen Ausdruck von Arbeitsblättern (nach einem abgeschickten Druckauftrag) aus unserem Kopierer zu holen. Ich verließ unseren Teamraum, ging einen Flur entlang und durchquerte die Eingangshalle, auf dem Weg in unseren Verwaltungstrakt, in dem der Kopierer steht. So weit kam ich aber nicht. In der Halle standen vier Frauen, ungefähr 35 Jahre alt. Eine Frau erkannte ich sofort. Sie ist vor 20 Jahren bei besagter Berufsfindungswoche als Schülerin mitgefahren - unschuldig. Zwei weitere der vier Frauen ebenso. Ich war völlig perplex und berichtete ihnen sogleich, dass ich nicht einmal vor einer Minute die Geschichte unserer gemeinsamen Fahrt einer Kollegin erzählt, um sofort danach überraschend vor drei der damals Mitfahrenden zu stehen.

Es stellte sich heraus, dass die ehemaligen drei Schülerinnen nach 19 Jahren die Schule in der Hoffnung aufgesuchten, die Kontaktdaten ihres ehemaligen Klassenlehrers zu erhalten.
 
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