Das Ergebnis des Referendums hat eine ganze Reihe von Ursachen:
- Die traditionelle Distanz des Vereinigten Königreichs von Kontinentaleuropa und eine gewisse Skepsis gegenüber dem, was von dort kommt
- Der Zeitpunkt des Referendums mitten in der Flüchtlingskrise und dem Türkei-Deal, der im UK sehr negativ aufgenommen wurde
- Die beschämend geringe Wahlbeteiligung der jungen Briten unter 25 Jahren (ganz ehrlich, nur ein Drittel von denen findet den Weg zur Wahlkabine, das ist ein Armutszeugnis für diese Generation)
- Der äußert zaghafte Einsatz von Labour unter Jeremy Corbyn, der sich für die EU-Mitgliedschaft nicht gerade ein Bein ausgerissen hat und schon zuvor mit seiner Positionierung am radikalen linken Rand seine Partei gespalten hat
- Die brachiale, populistische Leave-Kampagne, die geschickt an die Ängste der Menschen appelliert hat
- Der zu sanfte, ruhige Wahlkampf des Remain-Lagers, das meist mit einem "Ja, aber..." verbunden war und zu sehr darauf beschränkt war, die negativen Folgen zu betonen
Um kurz auf den Posten des PM zu sprechen zu kommen: Keine Sorge, der ist immer noch heiß begehrt, ein Ehrgeizling wie Boris Johnson wird sich davon nicht schrecken lassen und auch weiterhin dafür über (politische) Leichen gehen.
Was die anstehenden Verhandlungen angeht, so hätte die EU schon viele Gründe, verstimmt zu sein. Im Wahlkampf wurde sie von Boris Johnson mit NS-Deutschland verglichen und erst kürzlich wieder als eine tote Idee verhöhnt, Nigel Farage, sein Verbündeter, träumt offen von ihrer "Zerstörung", führende EU-Politiker wurden als Diktatoren und Blutsauger beschimpft und zudem ein äußerst beleidigender Wahlkampf gegen EU-Ausländer, besonders aus Polen, geführt, unter Verwendung von Begriffen, die sich in einem anständigen politischem Diskurs verbieten. Jetzt hat man für den Brexit gestimmt und prompt wird relativiert und herumgedruckst. Die Forderungen der Briten lauten im Grunde, weiterhin unbeschränkten Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu haben, ebenso die Visafreiheit für britische Bürger, während man im Gegenzug die Freizügigkeit für EU-Bürger nicht mehr gewähren will. Zudem wird das Vereinigte Königreich ja auch keinerlei finanzielle Beiträge mehr leisten und auch politisch nicht mehr mitwirken, erwartet aber, weiterhin als EU-Mitglied behandelt zu werden. Das sind schon recht hohe Forderungen. Schlussendlich wird man sich irgendwie einigen müssen, aber ich wüsste nicht, warum man da unnötig großzügig sein sollte.
Man muss aber auch sagen, dass die EU es leider oft versäumt hat, die Menschen von sich zu überzeugen und die Vorteile deutlich zu machen, die sie bringt. Und zwar die ganz konkreten Vorteile für den Einzelnen im Alltag. Zudem wurden die großen Fragen wie Wirtschaft und Sicherheit zu oft im Streit der Mitgliedsstaaten zerrieben und blieben ungelöst. Die EU hat sich leider auch nicht stark genug dagegen gewehrt, für sämtliche Fehlentwicklungen als Sündenbock missbraucht zu werden, und hat teilweise auch Klischees von Bürokraten bedient.
Was die EU meiner Ansicht nach braucht, um mehr Akzeptanz zu erhalten, ist mehr Einsatz und bessere Strategie, ein klares Konzept. Dazu gehört folgendes:
- Die EU darf nicht länger als Resterampe für zweitklassige oder gescheiterte Politiker dienen. Wenn man als EU den Anspruch hat, Europa zu repräsentierten, dann muss man auch hochkarätige Leute nach Brüssel entsenden, Personen, die ein hohes Ansehen genießen und denen man zutraut, etwas zu bewirken, nicht Leute, die es in ihrer Heimat vermasselt haben
- Die EU sollte versuchen, ihre Maßnahmen besser zu begründen, und sich nicht zu sehr im Klein-Klein verlieren. Viele EU-Vorschriften machen durchaus Sinn, auch wenn sie zunächst nach übertriebener Bürokratie aussehen, einheitliche Standards und klare Regeln helfen. Gerade ein Land wie Deutschland, das unter anderem dank strenger Normen in der Wirtschaft stark geworden ist, sollte den Wert von so etwas erkennen. Bestes Beispiel ist die Logistik-Branche, die viel davon profitiert hat, dass z. B. Paletten und ähnliches genormt wurden.
- Die EU sollte versuchen, die wirtschaftliche Notlage in vielen Mitgliedsstaaten zu lindern. Schlussendlich hängt dabei aber vieles von den nationalen Regierungen ab. Klar ist, dass die Reformen in manchen Staaten in irgendeiner Form belohnt werden müssen, z. B. durch eine Lockerung (nicht Aufgabe!) der Sparpolitik.
- Eine Straffung und Verschlankung der Strukturen würde sicherlich auch helfen. Man sollte gründlich prüfen, welche Posten notwendig sind und welche zum Selbstzweck verkommen sind. Eine funktionierende Bürokratie ist sehr wichtig, es darf aber nicht der Eindruck entstehen, dass man sich Posten zuschiebt bzw. sie erschafft um ihrer selbst willen. Aber, man muss auch sagen: Es gibt allein in Griechenland allein mehr Beamte als in Brüssel, und was Regulierungen und Vorschriften angeht, ist so manche Nationalregierung strenger als die EU. So manches Klischee über die EU stimmt halt doch nicht.
- Die nationalen Regierungen sollten stärker für das Projekt EU werben und sich endlich klar verständigen, welche Kompetenzen bei ihnen liegen sollen und welche bei der EU. Das Durcheinander hilft nicht. Zudem muss nach außen mehr Einigkeit gezeigt werden, z. B. in Fragen wie der Flüchtlingspolitik oder der Außenpolitik. Das heißt auch, dass Staaten wie Frankreich und Deutschland mehr Rücksicht auf die Interessen anderer nehmen sollten, z. B. das höhere Sicherheitsbedürfnis der Osteuropäer oder die Arbeitslosigkeit in Südeuropa nehmen müssen (in dieser Hinsicht waren manche Äußerungen und Treffen nicht gerade hilfreich).
- Die Errungenschaften der EU bei der Völkerverständigung in Europa sind ein ganz großer Verdienst, aber selbst wer mit Pathos nichts anfangen kann, wird sich evtl. davon überzeugen lassen, dass die einzelnen europäischen Staaten in der Welt wenig mitzureden haben, als Verbund hingegen sehr viel. Es sprechen also auch ganz pragmatische Argumente für eine enge Kooperation. Auch das kann man stärker betonen.
- Die Vertreter der EU müssen zudem stärker in die Öffentlichkeit treten und sich mal zeigen, zudem ihre Entscheidungen transparenter machen. Aber ehrlich gesagt ist es etwas unfair, da so stark die EU zu kritisieren, bei den nationalen Regierungen sieht es oft auch nicht besser aus.