Dogville präsentiert sich wie eine Versuchsanordnung. Untersucht werden soll folgendes: Eine junge Frau auf der Flucht kommt in eine von der Außenwelt weitgehend abgeschlossene Kleinstadt. Die Bewohner des Städtchen sollen darüber entscheiden, ob und unter welchen Bedingen die Fremde unter ihnen leben soll. Der weitere Verlauf wird von der Kamera aufgezeichnet.
Experimente werden in der Regel unter Laborbedingungen durchgeführt. Alle Störfaktoren werden nach Möglichkeit ausgeblendet. Entsprechend wird in "Dogville" auf ein klassisches Filmset verzichtet. In einer großen Lagerhalle sind auf dem Boden einer Bühne stattdessen die Grundrisse von Häusern und Straßen aufgemalt, einige Requisiten deuten die Inneneinrichtungen, einzelne Wandelemente Fassaden an. Der Zuschauer ist quasi ein Gast des Versuchsleiters. Teilweise lenkt dieser mit Hilfe der Kamera die Aufmerksamkeit auf bestimmte Vorkommnisse in dem gesellschaftlichen Mikrokosmos, teilweise hat der Zuschauer aber auch selber Gelegenheit nach Lust und Laune seinen Blick über die Versuchsanordnung schweifen zu lassen. Er sieht gleichzeitig das Private und das Öffentliche von 15 Erwachsenen und einer Handvoll Kinder. Ein Sprecher (Erzähler aus Amelié) fasst quasi als Protokollant die einzelnen Versuchsschritte mit wissenschaftlicher Nüchternheit zusammen.
Im Prinzip ist "Dogville" nichts anders als abgefilmtes Theater. Theater auf der Leinwand hat aber zwei wesentliche Vorteile. Erstens sind Emotionen viel feiner darstellbar, weil die Leinwand Gesichter in Großaufnahme zeigen kann und noch das leiseste Flüstern verständlich ist. Zweitens sind Zeitsprünge durch den Schnitt sofort erkennbar.
Die Menschen von Dogville sind ganz mit sich selbst beschäftigt. Man kennt sich, ist eine eingeschworene Gemeinschaft, lebt aber auch gleichgültig nebeneinander her. Bis eines Tages Grace in ihre Mitte tritt. Auf einer Versammlung wird beschlossen, dass sie zunächst für zwei Wochen bleiben darf. Die Anwesenheit Grace reißt sie aus ihren Alltagstrott. Dogville erwacht aus seiner Lethargie. In neun Kapitel skizziert von Trier die gruppendynamischen Prozesse, die aus der neuen Situation entstehen. Zunächst kann die freundliche Fremde sämtliche Bewohner für sich gewinnen und das Gute in den Menschen von Dogville wecken. Aber mit dem wachsenden Bewusstsein der Dogviller, dass es in ihrer Macht liegt über das Wohl der Flüchtigen zu entscheiden. Und Lars von Trier zeigt wie Macht den Menschen korrumpieren kann. Nach und nach beginnen die scheinbar so freundlichen Bürger die Schwäche der Verfolgten auszunutzen. Aus dem Engel wird der Sündenbock, aus der Flüchtigen eine Gefangene. Die Abgründe der menschlichen Natur treten zu Tage. In den neun Kapitel erfährt Grace alle menschlichen Verhaltensweisen, die ein Fremder unter Einheimischen, ein Außenseiter gegenüber der Mehrheit nur erfahren kann. Sie wird misstrauisch beäugt, gemieden, geschützt, geliebt, benutzt, beschimpft, vergewaltigt, verachtet, versklavt, verraten.
Mit Geduld erträgt Grace ihren Leidensweg. Aber anders als in den vorangegangenen Filmen in der von Trier die menschliche insbesondere die weibliche Leidensfähigkeit thematisiert hat, dreht er am Ende den Spies noch einmal um. Ist Vergeltung gestattet, um Unrecht zu sühnen? Eine Antwort gibt der Film nicht. Aber er hinterlässt Verwirrung. Gut und Böse erscheinen beständig in einem anderen Licht und so wird der Zuschauer im Laufe des Filmes hin- und hergeworfen zwischen Anteilnahme, Rachegelüsten und Vergebung.
"Dogville" spielt mit den Emotionen und hinterfragt die scheinbare eigene moralische Überlegenheit. Somit wird der Film letztlich zum Selbstversuch. Denn Dogville gibt es nicht nur auf der Leinwand, Dogville ist überall.
Lars von Trier hat einen düsteren, pessimistischen Theaterfilm gedreht, der für seine Laufzeit von drei Stunden aber überraschend kurzweilig ausgefallen ist. Für Abwechslung sorgen automatisch die fünfzehn unterschiedlichen Charaktere von Dogville, einschließlich ihres ständig im Wandel begriffenen Reaktionsverhalten gegenüber Grace.