Dogville

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Senator LeiaOrgana

Gast
Als ich vor vor einigen Wochen auf Klassenfahrt nach Wien reiste, habe ich mir unter anderem mit einigen Klassenkameraden den Film "Dogville" von Lars von Trier im Kino angesehen. Mich würde nun eure Meinung bezüglich diesem unkonventionellen Film und eure Begründung dazu interessieren.



EDIT: Anscheinend scheint niemand den Film zu kennen. :(
 
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Ja, ich war heute in "Dogville" und ich muss sagen, dass er sicher eines der gewagtesten Filmexperimente überhaupt ist. Lars von Trier, sicher einer der wichstigsten und einflussreichsten Regisseure Europas, hat in seinem Film alles elemeniert, was von seinen Figuren insbesondere der von Nicole Kidman überragend gespielten Märtyrerin ablenken könnte. So gibt es keine Bauten, sondern nur eine Kulisse, die in Form eines Bühnenbildes, hermetisch abgeschlossene Abgeschiedenheit abbildet. Im Vordergrund steht von Triers Thema, das gleichzeitig seine Sicht auf Amerika ist. Sein "Dogville", jene abgelegene Gemeinde in den Rocky Mountains, steht für Amerika als ein Ort, der ein feindliches Außen braucht, um überleben zu können. Und die Märtyrerin Grace und ihr Kampf um soziale Anerkennung als Außenseiterin steht für alles was diese Gemeinde scheinbar bedroht. Obwohl "Dogville" im direkten Vergleicht zu von Triers bestem Film "Breaking the Waves" sicher in der ersten Stunde zu langatmig geraten ist, hat mich vor allem die Konsequenz seiner Erzählung sehr beeindruckt. Ein brutaler und schmerzhafter, aber ein großer Film.
 
Dogville präsentiert sich wie eine Versuchsanordnung. Untersucht werden soll folgendes: Eine junge Frau auf der Flucht kommt in eine von der Außenwelt weitgehend abgeschlossene Kleinstadt. Die Bewohner des Städtchen sollen darüber entscheiden, ob und unter welchen Bedingen die Fremde unter ihnen leben soll. Der weitere Verlauf wird von der Kamera aufgezeichnet.

Experimente werden in der Regel unter Laborbedingungen durchgeführt. Alle Störfaktoren werden nach Möglichkeit ausgeblendet. Entsprechend wird in "Dogville" auf ein klassisches Filmset verzichtet. In einer großen Lagerhalle sind auf dem Boden einer Bühne stattdessen die Grundrisse von Häusern und Straßen aufgemalt, einige Requisiten deuten die Inneneinrichtungen, einzelne Wandelemente Fassaden an. Der Zuschauer ist quasi ein Gast des Versuchsleiters. Teilweise lenkt dieser mit Hilfe der Kamera die Aufmerksamkeit auf bestimmte Vorkommnisse in dem gesellschaftlichen Mikrokosmos, teilweise hat der Zuschauer aber auch selber Gelegenheit nach Lust und Laune seinen Blick über die Versuchsanordnung schweifen zu lassen. Er sieht gleichzeitig das Private und das Öffentliche von 15 Erwachsenen und einer Handvoll Kinder. Ein Sprecher (Erzähler aus Amelié) fasst quasi als Protokollant die einzelnen Versuchsschritte mit wissenschaftlicher Nüchternheit zusammen.

Im Prinzip ist "Dogville" nichts anders als abgefilmtes Theater. Theater auf der Leinwand hat aber zwei wesentliche Vorteile. Erstens sind Emotionen viel feiner darstellbar, weil die Leinwand Gesichter in Großaufnahme zeigen kann und noch das leiseste Flüstern verständlich ist. Zweitens sind Zeitsprünge durch den Schnitt sofort erkennbar.

Die Menschen von Dogville sind ganz mit sich selbst beschäftigt. Man kennt sich, ist eine eingeschworene Gemeinschaft, lebt aber auch gleichgültig nebeneinander her. Bis eines Tages Grace in ihre Mitte tritt. Auf einer Versammlung wird beschlossen, dass sie zunächst für zwei Wochen bleiben darf. Die Anwesenheit Grace reißt sie aus ihren Alltagstrott. Dogville erwacht aus seiner Lethargie. In neun Kapitel skizziert von Trier die gruppendynamischen Prozesse, die aus der neuen Situation entstehen. Zunächst kann die freundliche Fremde sämtliche Bewohner für sich gewinnen und das Gute in den Menschen von Dogville wecken. Aber mit dem wachsenden Bewusstsein der Dogviller, dass es in ihrer Macht liegt über das Wohl der Flüchtigen zu entscheiden. Und Lars von Trier zeigt wie Macht den Menschen korrumpieren kann. Nach und nach beginnen die scheinbar so freundlichen Bürger die Schwäche der Verfolgten auszunutzen. Aus dem Engel wird der Sündenbock, aus der Flüchtigen eine Gefangene. Die Abgründe der menschlichen Natur treten zu Tage. In den neun Kapitel erfährt Grace alle menschlichen Verhaltensweisen, die ein Fremder unter Einheimischen, ein Außenseiter gegenüber der Mehrheit nur erfahren kann. Sie wird misstrauisch beäugt, gemieden, geschützt, geliebt, benutzt, beschimpft, vergewaltigt, verachtet, versklavt, verraten.

Mit Geduld erträgt Grace ihren Leidensweg. Aber anders als in den vorangegangenen Filmen in der von Trier die menschliche insbesondere die weibliche Leidensfähigkeit thematisiert hat, dreht er am Ende den Spies noch einmal um. Ist Vergeltung gestattet, um Unrecht zu sühnen? Eine Antwort gibt der Film nicht. Aber er hinterlässt Verwirrung. Gut und Böse erscheinen beständig in einem anderen Licht und so wird der Zuschauer im Laufe des Filmes hin- und hergeworfen zwischen Anteilnahme, Rachegelüsten und Vergebung.

"Dogville" spielt mit den Emotionen und hinterfragt die scheinbare eigene moralische Überlegenheit. Somit wird der Film letztlich zum Selbstversuch. Denn Dogville gibt es nicht nur auf der Leinwand, Dogville ist überall.

Lars von Trier hat einen düsteren, pessimistischen Theaterfilm gedreht, der für seine Laufzeit von drei Stunden aber überraschend kurzweilig ausgefallen ist. Für Abwechslung sorgen automatisch die fünfzehn unterschiedlichen Charaktere von Dogville, einschließlich ihres ständig im Wandel begriffenen Reaktionsverhalten gegenüber Grace.
 
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