Gesichter des Grafen
NSC-Account von Janus Sturn
Lianna
Lianna City, 13. Distrikt
Der kühle, kalte Wind zerrte an dem grauen Mantel von Kommissar Arkadi Duval, als sich der schlanke blonde Mann einen Weg durch die Seitengasse bahnte. Graue, schmucklose Gebäude, teilweise in verschiedenen Stadien des Verfalls begriffen, ragten neben ihm auf. Der 13. Distrikt der Hauptstadt von Lianna hatte definitiv schon bessere Zeiten gesehen, eine wirtschaftliche Krise hatte in dieser Gegend viele kleine und größere Industriebetriebe in die Knie gezwungen. In den Resten dessen, was einst der Stolz vieler Unternehmen gewesen war, hausten nun Ratten und auch die ein oder andere Gang hatte sich zwischen kaputten Fließbändern und Büros eingerichtet, im großen und ganzen herrschte aber eine gähnende Leere. Nur wenige verirrten sich in diesen Tagen noch hierher, aber nicht heute. Heute wimmelte es in den Gassen vor Lebewesen verschiedener Spezies in den Uniformen des Lianna City Police Departments (LCPD) und die Signalanlagen von Streifenfahrzeugen tauchten die Umgebung in ein buntes Farbenspiel, noch immer rückten zusätzliche Kräfte an, um den Bereich um den Tatort abzuriegeln und zu untersuchen. Es herrschte rege Aktivität, Polizisten entrollten Sperrbänder und Warnhinweise, wiesen ihre neu eingetroffenen Kollegen ein und sorgten dafür, dass die Teams der Spurensicherung ihre Arbeit in Ruhe erledigen konnten. Arkadi betrachtete das Gewusel mit einer gewissen Missbilligung, man konnte nur hoffen, dass sich auch alle an die Vorschriften und nicht wertvolle Spuren zertrampelten. Um nicht mitten im Chaos zu landen, hatte der Ermittler seinen Dienstspeeder ein wenig abseits geparkt und war die letzten Meter zu Fuß gegangen, eine gute Möglichkeit, um frische Luft zu schnappen und den Kopf frei zu bekommen. Das war auch bitter nötig, denn letzte Nacht hatte er wieder, von Alpträumen gepeinigt, kaum schlafen können, und nur eine Mischung aus Caf und Aufputschmitteln hielt den blonden Mann auf den Beinen. Er spürte schon die Vorboten eines Zitterns seiner Hände und verbarg sie vorsichtshalber in den Taschen seines Mantels, er wollte keine weitere Standpauke erhalten, wenn er gleich eine gewisse Gerichtsmedizinerin treffen würde. Sie war bereits da, der schwarze Speeder ein untrügliches Zeichen, und trotz des Ernsts der Lage konnte sich Arkadi ein schmales Lächeln nicht verkneifen. Die Kollegen scherzten schon, dass die Gerichtsmedizin vor dem ersten Streifenwagen eintraf, aber das war genau die Einstellung, die sie brauchten, um Fälle zu lösen, mit solchem Arbeitseifer erwarb man sich den Respekt des Kommissars.
Einen Moment hielt Arkadi inne, als er sich dem Absperrband näherte, holte noch einmal tief Luft und trat dann vor, während er beiläufig seine Dienstmarke zeigte und dem wachhabenden Beamten knapp zunickte, der für ihn das Sperrband hochhob und ihn durchließ. Er hatte den Tatort kaum betreten, als ihm bereits ein Kollege auffiel, ein uniformierter Streifenpolizist. Der unangenehm blasse Twi´lek übergab sich gerade geräuschvoll in eine Plastiktüte, während ein weiterer Polizist ihm die Schulter hielt und beruhigend auf einredete, ganz munter sah aber auch er nicht. Das musste die Streife sein, die als Erste am Tatort eingetroffen war, und ein kalter Klumpen bildete sich in Arkadis Magengrube. Seine Kollegen waren hartgesottene Leute und hatten schon einiges erlebt, wenn sie etwas derart mitnahm, dann konnte es sich nur um eines handeln: Der Serienmörder, der Lianna seit Monaten in Atem hielt, hatte wieder zugeschlagen. Arkadi fröstelte, als er näher trat und sich in den Kreis der Ermittler einreihte, die in der Mitte des Tatorts versammelt waren. Blasse, schockierte, angewiderte Gesichter, wohin er blickte, Kommissarin Delavert, seine alte Partnerin nickte ihm knapp zu und trat einen Schritt zur Seite, damit er besser sehen konnte. Der blonde Mann nahm seine Kräfte zusammen und zwang sich, hinzusehen...
Es war gut, dass seine Hände in den Taschen seines Mantels verborgen waren, das Zittern fiel so heftig aus, dass Arkadi mehrere Minuten brauchte, um es soweit unter Kontrolle bringen zu können, um einen Becher Caf trinken zu können. Der Kommissar stand ein wenig abseits und war froh darüber, die kühle Luft brannte in seinen Lungen, als er Atem holte und versuchte, die leeren, toten Augen zu vergessen, die ihn anklagend angestarrt hatten. „Warum hast du mich sterben lassen?“ Der blonde Mann zuckte zusammen, als eine leise, gemeine Stimme diesen fatalen Satz flüsterte, und er schüttelte rasch den Kopf, straffte seine Haltung und kehrte zu den anderen Ermittlern zurück. Die Stimmung war gedrückt, seit Monaten hielt das mordende Phantom die Polizei und die Bevölkerung in Atem und schien seinen Häschern immer mindestens einen Schritt voraus zu sein. Entsprechend groß war der Frust, denn man besonders Kommissar Terrin ansah, der bullige Mensch mittleren Alters, dessen Haar sich auf dem stetigen Rückzug befand, schlug wütend gegen die Seite eines Speeders.
„Das kranke Schwein ist schon wieder davongekommen. Ich sag´s euch, wenn ich den Bastard in die Finger kriege, dann...dann...“
Arkadi trat rasch zu ihm und legte seinem Kollegen beruhigend die Hand auf die Schulter. Terrin funkelte ihn zunächst wütend an, räusperte sich dann aber, schnappte hörbar nach Luft und nickte dankbar, noch immer aufgebracht, aber nicht mehr drauf und dran, alles kaputt zu hauen. Sie mussten einen kühlen Kopf bewahren, wenn sie den „Gourmet“ schnappen wollten. Gourmet. Ein makabrer, aber überaus passender Spitzname für den Serienmörder, dessen modus operandi darin bestand, seine Opfer präzise und sauber zu erledigen, ihnen die verzehrbaren Teile zu entnehmen und spöttisch – arrogant, fügte Arkadi bitter hinzu – einen passenden Auszug aus den Speisekarten der besten Restaurants von Lianna zu hinterlassen. Falls das jüngste Opfer ebenfalls auf sein Konto ging, und momentan sprach vieles dafür, hatte der „Gourmet“ mittlerweile den Status eines Serienmörders mehr als nur erreicht. Mittlerweile herrschte auch dank der Medien eine veritable Panik und der Druck auf das LCPD war enorm. Sie brauchten Ergebnisse, Erfolge, greifbare Hinweise, irgendetwas. Arkadi knirschte mit den Zähnen, der Caf hatte einen bitteren Geschmack hinterlassen, da hörte er hinter sich Schritte und für einen Moment kam ein irrationales Gefühl von Angst auf, das sich aber rasch legte, als er erkannte, wer da zu ihm kam. Vielleicht die größte Hoffnung auf den so dringend benötigten Erfolg, dachte sich der Kommissar und ein schmales, freundliches Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sich umdrehte und der dunkelhaarigen jungen Frau zunickte, die immer noch Teile ihrer weißen Schutzkleidung trug.
„Dr. Kaveri, was haben Sie für mich? Ist er es?“
Hoffnung. Hoffnung auf eine Spur, einen Hinweis, irgendetwas...
„Kommen Sie, Kommissar Duval. Ich möchte Ihnen etwas zeigen."
Wie auch ihr Vorgesetzter verschwendete die schlanke Ärztin ihre Zeit nicht mit höflichen Floskeln, sondern kam ohne Umwege zur Sache. Sie war noch nicht lange als Forensikerin in Arkadis Team und während sie arbeitete war sie von schonungsloser, kompromissloser Direktheit, die ihr oft als Unhöflichkeit ausgelegt wurde - aber entweder waren ihr die Irritationen, die ihr Verhalten hervorrief egal oder sie bemerkte sie einfach nicht. Und so schritt sie auch jetzt, ohne sich noch einmal umzusehen, ob er ihr tatsächlich folgte, an Kommissar Duval vorbei und auf den unförmigen, blutigen Klumpen zu, der noch vor ein paar Stunden ein lebendiges Wesen gewesen war. Mit ungerührter Professionalität nahm Dr. Kaveri das Opfer erneut in Augenschein: Ein Mensch, männlich, noch jung. Vermutlich noch keine dreißig Jahre alt. In der kalten Luft dampfte der geöffnete Körper noch. Sie zog sich frische Handschuhe über, ging in die Knie und legte den Zeigefinger auf den kurzen Schnitt am Hals des jungen Toten:
"Hier. Es ist wie bei den anderen. Ein Schnitt durch die Arteria Carotis hat ihn verbluten lassen."
Die ernste, junge Frau sah auf und begegnete dem erschöpft wirkenden Blick des Kommissars. Bevor ihre Hände tiefer wanderten und das Fleisch über der aufgeschnittenen Bauchhöhle auseinanderzogen, erlaubte sie sich ein seltenes, sparsames Lächeln.
"Das wird Ihnen gefallen: Diesmal hat er gepfuscht. Sein Werkzeug ist abgerutscht, als er die Nieren entnommen hat und hat Spuren an der Wirbelsäule hinterlassen. Sehen Sie, hier seitlich am L4."
Eine kaum sichtbare Abschürfung an dem weiß aus dem Rot schimmernden Wirbelkörper war dort zu sehen, wo Leela hindeutete.
"Mit etwas Glück kann ich damit die Tatwaffe weiter eingrenzen."
Die Forensikerin erhob sich geschmeidig und streifte sich gekonnt die Handschuhe ab, ohne dabei einen einzigen Blutstropfen auf ihre Haut zu kleckern. "Und noch etwas: Wie schon zuvor vermutet, müssen wir von einem Täter mit beträchtlichem anatomischen Wissen und chirurgischer Erfahrung ausgehen. Die Schnitte sind präzise und abgesehen von dem kleinen Ausrutscher heute ...perfekt."
Arkadis Kollegin klang beinahe bewundernd und ihre Lippen kräuselten sich in einem versonnenen, zufriedenen Lächeln.
"Wenn Sie sonst von ihm hier nichts mehr brauchen...?"
Dr. Kaveri nickte zu der grausig zugerichtete Leiche und legte anschliessend fragend den Kopf schräg.
"Ich bin hier fertig. Packt ihn ein."
wandte sie sich allsdann an die Kriminaltechniker und begann in einiger Entfernung vom Tatort ihre Schutzkleidung abzulegen und in ihrem schwarzen Speeder in einer eigens dafür vorgesehenen Box zu verstauen. Tatort-Blut war das letzte, was sie an ihren Polstern gebrauchen konnte. Als das erledigt war, kehrte sie noch einmal zu dem eigenartig verloren wirkenden Kommissar zurück, der in seinem grauen Mantel fast mit dem vom Fluss schnell heraufziehenden Nebel verschmolz, und blieb neben ihm stehen, um die letzten Handgriffe des Teams der Spurensicherung zu beobachten.
"Was meinen Sie, Mr. Duval...", setzte Leela schließlich leise fragend an, "...was ist das für ein Mensch, der so etwas tut?"
Eigentlich hatte sie nach den Spurenfunden am Tatort fragen wollen - und den Schlüssen, die der Kommissar daraus zog. Aber all das würde sie in ein paar Stunden in der morgendlichen Besprechung ohnehin erfahren. Über die kleine Gasse, in der sie standen, hatte sich eine bleischwere Stille gesenkt, die sich dagegen wehrte, von irgendeinem Geräusch gestört zu werden. Von ihren banalen Fragen. Und selbst Atmen fiel Leela plötzlich schwer und unangemessen laut.
Es gab viele Lebewesen, die mit schnörkelloser Direktheit wenig anfangen konnten, sich davon sogar vor den Kopf gestoßen fühlten. Arkadi verstand, warum es gewisse soziale Konventionen gab und warum man sich meist bemühte, bestimmte Dinge in Watte zu packen, um andere nicht zu verletzen. Dennoch, der ehemalige Soldat fand, dass die Wahrheit am Besten offen ausgesprochen wurde, so klar und deutlich wie ein Schuss aus einem Blaster. Der unwillkürliche Vergleich missfiel dem blonden Mann und für einen Moment drohten seine Hände wieder zu zittern. Er tat sich noch immer schwer damit, ins Zivilleben zurückzukehren, sofern man davon bei seinem neuen Beruf überhaupt sprechen konnte. Die Gesellschaft kam ihm fremd vor, oberflächlich und voller Täuschungen. Es war seltsam, dort drüben hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als nach Hause zu kommen, und jetzt, wo er zu Hause war, wünschte er sich nichts sehnlicher, als zurück aufs Schlachtfeld zu ziehen. Dort gab es keine Lügen, keine Illusionen. Keine Freunde, die sich als Feinde entpuppten und einen im Stich ließen, wenn man am dringendsten Hilfe benötigte. Arkadi schüttelte innerlich den Kopf, um die marternden Gedanken an seine ehemalige Verlobte abzuschütteln, holte tief Luft und kehre ins hier und jetzt zurück. Denn auch wenn die schlanke, in weiße Schutzkleidung gehüllte Frau, die ihn in diesem Moment aus dunklen Augen ansah, sich wenig aus Konventionen machte, wollte Arkadi ihr gegenüber nicht unhöflich sein. Dr. Leela Kaveri war trotz ihres noch jungen Alters und der relativ kurzen Zeit, die er sie kannte, eine der besten Gerichtsmedizinerinnen, denen er im Lauf seiner Karriere begegnet war. Ihre unermüdliche Arbeit hatte dem LCPD schon in einigen scheinbar hoffnungslosen Fällen den entscheidenden Durchbruch verschafft. Der Kommissar schätzte ihre nüchterne, sachliche Art und als sie verkündete, dass sie ihm etwas zeigen wollte, nickte er knapp, stellte seinen Cafbecher ab und folgte ihr. Es passte, dass sie sich nicht einmal umdrehte, um zu sehen, ob er ihr folgte, und trotz der ernsten Lage musste der blonde Mann ein wenig lächeln. Wenn die dunkelhaarige Frau es so eilig hatte, musste es wichtig sein, und wenn es wichtig war, dann war es vielleicht die Chance auf einen Durchbruch.
Kühle Regentropfen tränkten seinen Mantel wie Tränen des Himmels, als Arkadi die wenigen Schritte ging und eine Zeltplane beiseite schlug, damit er eintreten konnte. Der unverwechselbare süßliche Geruch des Todes lag in der Luft und der blonde Kommissar wusste nicht, was schlimmer war – der Gestank oder die Tatsache, dass er sich langsam an ihn gewöhnte. Ein weiterer Gedanke, den er rasch verdrängte, neugierig trat er an Dr. Kaveris Seite und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Die ruhige Professionalität, mit der sie zu Werke ging, hatte etwas klinisch-kühles, aber auch beruhigendes, und paradoxerweise entspannte sich Arkadi sogar ein wenig, als er ihr zusah. Es war, wie wohl alle erwartet – oder befürchtet - hatten: Der „Gourmet“ hatte wieder zugeschlagen. Sein Markenzeichen, ein Schnitt durch die Halsschlagader, wie ein Schlachter, der ein Tier präparierte. Arkadi kämpfte aufkommende Übelkeit nieder und obwohl er ein wenig blasser geworden war, blieb er äußerlich einigermaßen ruhig. Seine Stimme klang belegt, war aber fest, nachdenklich. Er klammerte sich an die Fakten, um nicht verrückt zu werden, das war die beste Chance.
„Wenn der restliche modus operandi ebenfalls übereinstimmt, ist er es und kein Trittbrettfahrer. Wir haben versucht, so viele Details wie möglich aus der Presse raus zu halten, besonders, was die...ausgewählten Teile angeht.. Was noch?“
Gegen seinen Willen hatte Arkadis Frage etwas drängendes, forderndes. Er war – wie viele seiner Kollegen – erschöpft und frustriert, aber es war nicht fair, Dr. Kaveri das ausbaden zu lassen, und der Kommissar räusperte sich entschuldigend, als ihre Blicke sich trafen. In den dunklen Augen der Gerichtsmedizinerin lagen weder Ärger noch Zeichen von Müdigkeit, sie strahlte eine geradezu entrückte Ruhe und Gelassenheit aus, die er bewunderte und für einen Moment blinzelte seine blauen Augen, bevor er wieder zu der Leiche sah und aufmerksam zuhöre, was die Forensikerin zu berichten hatte. Als tatsächlich ein schmales Lächeln bei ihr aufblitzte, wusste Arkadi, dass sie an etwas dran war, und er sah genau hin, trat einen Schritt näher und ging in die Hocke. Der „Gourmet“, gepfuscht? Das passte nicht zu diesem überaus methodisch und sorgfältig vorgehendem Serienmörder, aber als Dr. Kaveri genau zeigte, was sie meinte, fiel es auch Arkadi auf. Ja, da waren eindeutig Spuren an der Wirbelsäule, Arkadi konnte sich bildlich vorstellen, wie eine Klinge dorthin gerutscht war. Nachdenklich strich der Kommissar übers Kinn, seine Stimme war abwesend, murmelnd.
„Das ist neu...Bis jetzt hat er noch nie Fehler gemacht. Noch nie. Immer vollkommen präzise...Was war diesmal anders? Zeitdruck? Wurde er überrascht? Hat sich das Opfer gewehrt? Ich...oh, Entschuldigung. Ich denke laut nach, Dr. Kaveri, aber Sie sind noch nicht fertig, das sagt mir Ihr Gesichtsausdruck.“
Und tatsächlich, die Forensikerin hatte eine veritable Bombe im Gepäck, zuversichtlich äußerte sie, dass sie womöglich schon bald die Tatwaffe würde eingrenzen. Arkadi war in diesem Fall schon oft enttäuscht worden, falsche Fährten und unbrauchbare Hinweise hatten die Ermittler wieder und wieder ins Leere laufen lassen, aber das klang nach einer wirklich brauchbaren Spur. Bis jetzt waren sie vor einem Rätsel gestanden, womit genau der „Gourmet“ seine Opfer tötete, aber wenn Dr. Kaveri das eingrenzen konnte, würde es möglich sein, gezielt nach Besitzern und Käufern zu suchen. Arkadi stand auf und nickte der Gerichtsmedizinerin zufrieden zu, routiniert erhob auch sie sich und streifte ihre Handschuhe ab, mit einer fast schon katzenhaften Geschmeidigkeit. Sie war noch nicht fertig, und was sie als nächstes sagte, ließ den Kommissar aus einem ihm unerfindlichen Grund frösteln. Die Art, wie sie die Präzision und Gründlichkeit des Mörders beschrieb, hatte schon etwas beinah bewunderndes, aber Arkadi schob es auf professionellen Respekt, denn offenbar besaß der „Gourmet“ Anatomiekenntnisse und wusste genau, was er tat, wenn er seine Opfer aufschnitt. Das grenzte den Kreis der Verdächtigen weiter ein und ein schmales, entschlossenes Lächeln zupfte an Arkadis Mundwinkeln, seine kühlen blauen Augen funkelten.
„Ja, er ist gut. Sogar sehr gut. Aber nicht perfekt. Früher oder später macht jeder Täter Fehler, und der „Gourmet“ ist keine Ausnahme. Ich glaube, er wird nachlässig...zu lange erfolgreich, zu lange hat er sich sicher gefühlt. Dann passieren solche Unachtsamkeiten und man hinterlässt Spuren...“
Der Blick des Kommissars schweifte ab, wanderte in die Ferne und wurde ein wenig glasig, als er sprach und Erinnerungen aufkamen, die er rasch weg blinzelte, als er feststellte, dass Dr. Kaveri ihm eine Frage gestellt hatte. Sich unangenehm ertappt fühlend nickte der blonde Mann rasch und lächelte dünn, doch sein Lächeln verschwand, als er feststellte, dass seine Hände wieder zitterten.
„Danke. Sie haben mir sehr weitergeholfen, Dr. Kaveri.“
Aus irgendeinem Grund schien der Gestank der Leiche stärker zu werden, intensiver, und Arkadi neigte leicht den Kopf und eilte dann hinaus an die frische Luft, bahnte sich einen Weg durch die Polizisten und flüchtete – ja, ein anderes Wort traf es wohl nicht – in eine Seitengasse, nach Atem ringend. Das Zittern seiner Hände wurde stärker und der Kommissar lehnte sich gegen eine alte Fabrikfassade, schnappte nach Luft und versuchte, an die Medizin in seiner Manteltasche zu kommen. Einige Tabletten fielen ihm aus den Händen, doch der Rest fand seinen Weg und erlaubten es ihm, nach einigen Minuten wieder halbwegs normal zu atmen. Rasch sah sich Arkadi um, niemand in der Nähe, und mit einem erleichterten Seufzen sammelte er die verstreute Medizin wieder auf und kehrte an den Tatort zurück, um die letzten Arbeiten zu beobachten. Kühler Wind zerrte an seinem Mantel und Nebel stieg vom Fluss aus, als wolle Lianna selbst ein Leichentuch über dem Toten ausbreiten. Erst spät bemerkte er, dass jemand an seine Seite trat – Dr. Kaveri war bemerkenswert gut darin, nahezu lautlos über den Boden zu huschen, als würden ihre Schuhe selbigen gar nicht berühren. Arkadi nickte ihr knapp zu und blickte weiter zum Team der Spurensicherung. Er war ein wenig überrascht, als die Forensikerin eine leise Frage stellte, und umso mehr darüber, was für eine Frage es war. Nachdenklich hielt der Kommissar inne, eine bleierne Stille legte sich über sie, als der blonde Mann überlegte. Schließlich kramte er in seiner Tasche und holte eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug heraus.
„Stört Sie nicht, Doktor?“
Erkundigte er sich höflich, bot der Gerichtsmedizinerin ebenfalls eine Zigarette an und nutzte dann sein Feuerzeug, an dem das Wappen seiner alten Einheit prangte, um den Glimmstängel anzuzünden, er nahm tiefe Züge und entspannte sich ein wenig, bevor antwortete.
„Was für ein Mensch das ist...Es ist kein psychologisches Profil, ich stochere hier im Dunkeln, aber...ich glaube, er ist ein Jäger. Er tut das, was er tut, nicht weil er es muss oder weil er unter Wahnvorstellungen leidet, sondern weil es ihm Spaß macht. Die Beute auszuwählen, sie aufzuspüren, fachmännisch zu erlegen und zu...verarbeiten, das bereitet ihm Vergnügen. Macht ihn stolz. Er ist klug, er ist vorsichtig, und er kann sich sehr gut tarnen. Gut möglich, dass er völlig normal wirkt, vielleicht sogar charmant und gewinnend. Aber das ist eine Maske. Der „Gourmet“ sieht andere Lebewesen nicht wie Sie und ich, Doktor. Er hält sich für jemanden, der gänzlich über allem steht. Gottähnlich. Er hält sich für klüger und besser und deshalb kann er tun und lassen, was es ihm beliebt. Aber...das ist nur eine Theorie.“
Abwesend starrte Arkadi in die Ferne und stellte dann fest, dass seine Zigarette beinah abgebrannt war, er warf den Stummel zu Boden und trat ihn aus, bevor er an seinem Mantel zerrte.
„Es wird kalt. Wollen Sie mit mir ins Präsidium fahren, Doktor Kaveri? Wir sind so schneller da als mit dem Gleiter der Gerichtsmedizin.“
Es war die Hoffnung, die das Gesicht des blonden Kommissars erhellte, als Leela davon gesprochen hatte, die Art des für die Tat infrage kommenden Werkzeugs eingrenzen, wenn nicht sogar bestimmen zu können, die auch sie nun wärmte und lächeln ließ. So selten war dieser Anblick, dass der Gedanke daran, Duval vermutlich bald wieder enttäuschen zu müssen, sie schmerzte. Denn auch wenn die junge Ärztin ihm schon bald mitteilen konnte, um welche Waffe es sich handeln musste, war das eine Spur, die sich schon bald im Nichts verlaufen würde. Ein chirurgisches Instrument, wie erwartet - aber weder selten noch schwer zu beschaffen. Arkadis Lächeln würde sie jedenfalls sobald nicht wieder sehen, wenn nicht noch andere Hinweise auftauchten. Das allerdings war etwas, woran Dr. Kaveri zweifelte. Sie hatte gründlich gearbeitet, nichts übersehen. Die Spurensicherung würde auch diesmal leer ausgehen und die Spuren, die sie selbst fand, würden die einzigen sein, die Kommissar Duval in diesem Fall weiterbrächten. Wie die Abschürfung an der Wirbelsäule. Die Hand des Täters hatte gezittert - in einem Übermaß an Emotion, in einem Moment, in dem sich der Gourmet von Gefühlen hatte mitreißen lassen, die nichts mit der klinischen Abgeklärtheit zu tun hatten, mit der er sonst zu Werke ging. Aber vielleicht lag diesem vermeintlichen Ausrutscher noch etwas anderes zu Grunde.
"Fehler, Unachtsamkeit... war es das wirklich?"
Leelas Stimme war leise geworden, ein Hauch Unsicherheit hatte sich hineingeschlichen und die junge Frau sah Duval an, aber dessen Blick war unfokussiert, gedankenfern. Nicht mehr bei ihr. Zeit zu gehen.
Mit einem viel zu lauten metallischen Klicken schloss Dr. Kaveri die Box, in der sie ihre besudelte Arbeitskleidung verstaut hatte und fast wollte sie schon in ihren Gleiter einsteigen, um vor allen anderen ihr Labor in der gerichtsmedizinischen Abteilung des LCPD betreten zu können und alles Nötige für die Obduktion des Opfers herzurichten. Und den blutigen Inhalt der Box zu entsorgen. Stattdessen zögerte die junge Frau ihren Aufbruch hinaus, kehrte zum Tatort zurück, in einer Mischung aus Neugier, ob die Spurensicherung vielleicht doch noch etwas fand und einer lähmenden Unentschlossenheit, die sie bisher noch nie verspürt hatte, wenn Arbeit auf sie wartete. Aber schließlich würde dieses weitere Opfer des Gourmet kaum Überraschungen für sie bereithalten.
Offenbar hatte sich auch der Kommissar noch nicht dazu durchringen können, den Schauplatz dieses erneuten Verbrechens zu verlassen. Sie sah ihn mit hochgezogenen Schultern fröstelnd am Rande des Geschehens stehen, eigentlich nicht mehr gebraucht, aber auch noch nicht bereit zu gehen. Die Fragen, die ihr eben noch auf der Zunge gelegen hatten, verloren plötzlich an Bedeutung. Viel angemessener schien es dagegen, einfach hier neben ihm zu stehen und zu schweigen - als stumme Mahnwache am Ort der blutigen Tat.
Als Leela ihn nach einiger Zeit doch noch ansprach, dauerte es eine ganze Weile bis der Kommissar zu einer Antwort ansetzte, nicht ohne sich zuvor eine Zigarette anzustecken und ihr ebenfalls eine anzubieten. Ob er tatsächlich wußte, dass sie zu sehr seltenen Gelegenheiten tatsächlich auch rauchte - oder wollte er einfach nur höflich sein? Nach kurzem Zögern nahm die junge Frau das Angebotene an - hauptsächlich, um ihre Ungeduld zu verbergen, mit der sie auf Duvals Antwort wartete - und kam dem blonden Mann unwillkürlich etwas näher, um sich Feuer geben zu lassen. Es war ihr wichtig, was er dachte... über den Gourmet und wie er ihn sah. Die einzigen Gedanken, die für sie zählten, außer ihren eigenen, waren seine. Aber als sich jetzt über der kleinen Feuerzeugflamme ihre Blicke trafen, zuckte sie zurück - mit großen, geweiteten Augen - als könne er, wenn er ihr so nah war, ihr Geheimnis stehlen. Die Flamme erlosch und die Gefahr war gebannt. Schweigsam rauchend standen sie wieder nebeneinander, jeder in seinem eigenen Kosmos, allein, unberührbar in der sich verdichtenden Dunkelheit, bis Duval schließlich seine Gedanken aussprach.
"Ein Jäger - ja. Vielleicht ist es so.", reagierte sie zwischen zwei Zügen nachdenklich auf seine Einschätzung des Gourmet. "Über allem, entfernt, getrennt von allen. Anders. Aber kein Gott. Nur ein Irrlicht." In ihrer Manteltasche fand Dr. Kaveri das kleine silberne Döschen, das sie für diesen Zweck mit sich führte und drückte den aufgerauchten Zigarettenstummel hinein, bevor sie weitersprach: "Sie werden ihren Mörder finden, Kommissar Duval."
Obwohl die schlanke Ärztin von der Idee überrascht war, dass ihr Gleiter langsamer sein könnte, als der des Kommissars, willigte sie ein, ihn zu begleiten: Eine wissentlich begangene Unvorsichtigkeit, die die Gefahr barg, dass ein Wort oder ein unbedacht geäußerter Gedanke die Barrieren zwischen ihnen niederriß und ihm einen Blick hinter die Maske erlaubte. Aber war es nicht eigentlich das, was sie wollte? Dass er es wusste. Dass er verstand. Jeder ihrer Hinweise ein Brotkrumen, eine Spur zu dem Raubtier, dass er jagte. Leelas Herz schlug schneller bei diesen Gedanken: Eine gefährliche Beute für den Jäger, er würde sich vorsehen müssen, sonst würde die Fährte, der er folgte ihn geradewegs in dessen Fänge führen.
"Ihr Angebot kommt mir sehr gelegen. Ich werde nur noch schnell meine Tasche holen." Dr. Kaveris Augen funkelten und das Lächeln, mit dem sie Kommissar Duval bei diesen Worten bedachte, zeigte eine Menge weißer Zähnchen.