Da es schon häufiger hier und auch generell genannt wurde, würde ich gerne erklären, warum ich nicht glaube, dass eine längere Kriegsdauer automatisch die Russische Föderation begünstigt. Ich habe den Eindruck, dass man von einer gegebenen höheren russischen Durchhaltefähigkeit ausgeht, die so aber gar nicht existiert.
1. Ist es der RF gelungen, ihre Produktion und Reparatur von Rüstungsgütern deutlich zu steigern? Nein.
2. Ist der RF gelungen, neue und mächtige Verbündete zu gewinnen, die sie im selben Ausmaß unterstützen wie weite Teile des Westens die Ukraine? Nein.
3. Ist es der RF gelungen, die enorm starren Führungsstrukturen zu reformieren, die immer wieder in sinnlosen und verlustreichen Angriffen resultieren? Nein.
4. Ist der RF gelungen, eine so breite und erfolgreiche Mobilisierung der Gesellschaft zu erreichen wie der Ukraine? Nein.
5. Ist es der RF gelungen, die Korruption zu bekämpfen, die gerade den militärischen Sektor lähmt? Nein.
6. Ist es der RF gelungen, eine geordnete Machtübergabe für den Fall von Putins Tod zu organisieren? Nein.
7. Ist es der RF gelungen, ihr Sanitätswesen so umzugestalten, dass viele Verwundete in den Dienst zurückkehren können? Nein.
Die Russische Föderation zehrt momentan noch soweit erfolgreich von dem militärischen Vermächtnis der Sowjetunion und davon, dass sie in der Defensive gewisse Vorteile besitzt. Wir sehen aber auch, wie reduziert die russischen militärischen Fähigkeiten mittlerweile sind, sonst wäre bei Awdijiwka schon längst mehr erreicht worden und der ukrainische Brückenkopf würde auch nicht mehr existieren - und die Einbrüche in die russische Front im Rahmen der Gegenoffensive sprechen auch nicht gerade für die russische Seite.
Ja, ein genereller politischer Wechsel im Westen könnte das Blatt zuungunsten der Ukraine wenden, aber erstens ist ein solcher Wechsel weder in Stein gemeißelt noch wird dieser so kurzfristig erfolgen, dass sich die Situation auf dem Schlachtfeld nicht noch deutlich ändern könnte. Die Ukraine ist immerhin so stabil, dass dort nicht eine der schlagkräftigsten militärischen Formationen versucht hat, gegen den Staat zu putschen - wenn die RF so aussieht, kann man nochmal weiter reden.
Zur Wehrpflicht sei gesagt, dass diese durchaus einen gewissen gesellschaftlichen und militärischen Wert hat. Sie ist aber nicht die Patentlösung, als die sie so oft präsentiert wird. Eine hohe Fähigkeit zur Verteidigung ergibt sich aus moderner, leistungsfähiger und einsatzbereiter Ausrüstung in großer Menge, einer guten Ausbildung in allen Bereichen, einer flexiblen Führung, ausreichenden Reserven und Infrastruktur und dem politischen und gesellschaftlichen Willen, sich und andere zu schützen. All das lässt sich im Kontext einer Berufsarmee genauso oder sogar leichter erreichen als über die Wehrpflicht. Die USA verfügen über die schlagkräftigste Armee der Welt - und eine Wehrpflicht gibt es da weit und breit nicht.