Ich würde dagegen sagen, dass es weder je eine Phase der Zwangsentsozialisierung (hier bitte mit Entnazifizierung analog setzen und nicht mit allgemeinem Asozialwerden!) noch einer juristischen Aufarbeitung gegeben hat.
Das ist sicherlich nicht falsch, greift aber zu kurz.
Um die Politikverdrossenheit der Polen zu verstehen, muss man zwingend auch die Geschichte des Landes vor 1944 miteinbeziehen. Polen stand über 120 Jahre unter Fremdherrschaft, ja lange Zeit gab es überhaupt gar keinen polnischen Staat, wohl aber über die Gebiete von Preußen, Russland und Österreich-Ungarn verstreute polnische Minderheiten, die sich als Widerstand gegen die Okkupanten bewusst antistaatlich und antipolitisch gaben. Damit gingen dann auch die extremen Nationalisierungsprozesse der europäischen Staaten, die schließlich im ersten Weltkrieg mündeten, an den Polen vorbei. Das sozialistische Einparteiensystem war dann im Prinzip fast schon eine Fortsetzung des polnischen Schicksals; es gab nun zwar einen polnischen Nationalstaat, aber dieser war - mehr oder weniger - ebenfalls besetzt. Und hier organisierten sich die Polen eben erneut in strikter Abgrenzung zu Staat und Politik.
Lange Rede, kurzer Sinn. Eine Zivilgesellschaft, die ihre Interessen im Rahmen politischer Teilhabe, durch NGOs, Gewerkschaften oder eben auch durch Wahlen wahrnimmt, befindet sich in Polen überhaupt erst in der Entstehung. Polen hängt anderen europäischen Staaten dabei einfach hinterher. So stumpf kann man das, meines Erachtens, durchaus sagen, denn praktisch jede Generation bis 1989 hat Fremdherrschaft und Unterdrückung sowie die damit einhergehende Abneigung gegenüber "denen da oben" miterleben müssen.
Zur Aufarbeitung der sozialistischen Geschichte: So etwas, wie eine Aufarbeitung, findet erst seit einigen Jahren tatsächlich statt, wenn auch nicht juristisch (jedenfalls sind mir keinerlei Prozesse bekannt und ich bin mir recht sicher, dass das nicht an mir vorbeigegangen wäre). Man darf hierbei aber auch nicht außer Acht lassen, dass die Nachfolgeparteien der PZPR bis ~ 2005 ernst zu nehmende politische Faktoren darstellten und erst mit dieser Parlamentswahl endgültig alle Sitze im Sejm verloren. Gleichzeitig ist es aber wohl die Miteinbeziehung der Nomenklatura, nach 1989 (der sog. "Runde Tisch"), gewesen, die Polen vor dem russischen Schicksal einer oligarchischen Kleptokratie bewahrt hat...