Etwas mehr als 4 Wochen nach Kriegsbeginn will ich mich mal vorsichtig an einer Rückschau versuchen - als ungedienter Laie und nur mit Zugriff auf öffentlich zugängliche Quellen natürlich mit gewissen Einschränkungen versehen. Besonders interessant sind dabei für mich die Faktoren, die zu der gegenwärtigen politischen und militärischen Situation geführt haben.
Falsche Lageeinschätzung der russischen Seite im Vorfeld des Konflikts: Offenbar ging man von Seiten der russischen Führung von einem kurzen, siegreichen Krieg aus, einem fait accompli binnen weniger Tage. Das angedachte Vorgehen: Ein rascher, energischer Vorstoß von drei Seiten aus, Einnahme von Flugplätzen in der Nähe Kiews durch Luftlandlandetruppen in Hubschraubern, Überwältigung des geringen ukrainischen Widerstands, Absetzung der Regierung, Friedensgespräche unter Moskaus Kontrolle. Dafür spricht, dass zu den ersten Angriffswellen wohl bereits Einheiten der Militärpolizei gehörten - wohl in der Erwartung, dass man nach leichten Gefechten bereits die Kontrolle über die Bevölkerung ausüben würde. Man glaube wohl an eine "Krim 2014 im großen Stil", sprich eine rasche Kapitulation der ukrainischen Streitkräfte, Überlaufen und ausreichend Unterstützung in der ukrainischen Bevölkerung. Da man binnen kürzester Zeit Fakten geschaffen hätte, wären die Reaktionen des Westens verkraftbar gewesen, da sie wohl so schwach und zögerlich wie 2014/2015 ausgefallen wären. Es macht den Eindruck, als wäre die russische Seite ihrer eigenen Propaganda auf den Leim gegangen, vielleicht verbunden mit dem klassischen autokratischen Problem, dass jeder das erzählt, von dem er glaubt, dass der Machthaber es hören will, ungeachtet der Realität.
Systemische Schwächen der russischen Streitkräfte: Das beachtliche russische Rüstungsbudget ist offenbar im wahrsten Sinne des Wortes versickert. Zum einem in dem enorm teuren Nukleararsenal, das zwar für effektive Abschreckung sorgt, im konventionellen Konflikt aber wenig nützt, die Marine, die ebenfalls nur eine untergeordnete Rolle spielt, und in aufwändigen Prestigeprojekten wie dem neuen Armata-Panzer, die derzeit unter die Kategorie "bling, but no bang" fallen. Fast noch schlimmer ist offenbar die grassierende Korruption und Ineffizienz, zudem wurden wichtige Entwicklungen (Kampfdrohnen, digitale Funkgeräte, Nachtsichtgeräte, Präzisionsmuntion, etc.) "verschlafen". Die Tatsache, dass offenbar die bereitstehenden Truppen in weiten Teilen gar nicht wussten, dass sie in einen Krieg geschickt werden würden, der ukrainische militärische und zivile Widerstand, der im krassen Gegensatz zur Propaganda steht ("Man wird euch als slawische Brüder und Befreier vom Nazi-Regime begrüßen!"), Misshandlung von Wehrpflichtigen und Führungsversagen tun ein übriges. Zudem wurde der Faktor Logistik und die Sicherung von Konvois sträflich vernachlässigt und der Zeitpunkt des Angriffs war angesichts der Witterungsbedingungen ungünstig gewählt (zumindest bei längeren Kämpfen). Die russische Luftwaffe hat zudem nur geringe Vorräte an Präzisionsmunition und Probleme damit, Maschinen ausreichend einsatzbereit zu halten. Um es in einem dramatischen Bild zuzuspitzen: Schlecht geführte Wehrpflichtige mit AK-74 ohne Visiere werden ohne Nachtsichtgeräte, passende Kleidung und Lebensmittel in Kämpfe gegen Gegner geschickt, die es laut ihrer Führung eigentlich nicht geben dürfte, müssen mit zivilen Mobiltelefonen kommunizieren, um irgendwie in Kontakt zu bleiben, und Kampfpanzer bleiben im Schlamm stecken und müssen aufgegeben werden, weil Nachschub und Bergung versagen.
Der ukrainische Widerstand: Seit 2014 gab es in der Ukraine dramatische Reformen auf allen Ebenen, besonders politisch und militärisch. Es hat sich klarer Selbstbehauptungswillen entwickelt, Vertrauen in die politische Führung und ein neues nationales Selbstbewusstsein. Das hat natürlich auch direkte Auswirkungen auf die militärische Leistungsfähigkeit, die Anzahl an Freiwilligen und ihre Moral ist hoch, die Materiallage gut und die massive Unterstützung aus dem Ausland (von der Feldration bis zur Panzerabwehrlenkwaffe) tut ein übriges. Auch das Ausbildungsniveau hat sich drastisch verbessert. Man profitiert zudem als angegriffenes Land von einem klaren Narrativ und den Sympathien weiter Teile der Weltgemeinschaft.
Das alles bedeutet allerdings nicht, dass sich der russische Riese als ein Zwerg entpuppt hat und kurz vor der Niederlage steht. Bei den schweren Waffensystemen blutet auch die Ukraine stark und es ist durchaus möglich, dass Fehlentscheidungen und ein "alles in den Ring werfen" noch zu dramatischen Änderungen im Kriegsverlauf führen können. Allerdings würde auch ein konventioneller russischer Sieg eine strategische Niederlage bedeuten - ein Land wie die Ukraine kann gegen den Mehrheitswillen ihrer Bevölkerung nicht militärisch besetzt gehalten werden, und die Auswirkungen der Sanktionen und russische "Knieschüsse" im Bezug auf die Börse und das Einziehen von Vermögen werden in den nächsten Monaten erst richtig Wirkung zeigen. Es läuft also in vielerlei Hinsicht darauf, wer die Situation länger ertragen und die vorhandenen Mittel effektiver einsetzen kann.
Und bevor man sich allzu bequem darauf ausruht, dass diese Mängel und Fehlentscheidungen ein spezifisch russisches Problem seien, hier ein kleines "worst of" in eigener Sache:
https://augengeradeaus.net/2021/09/...rung-die-fortsetzung-80er-jahre-bitte-kommen/
https://www.n-tv.de/politik/Bundeswehr-in-Litauen-fehlt-warme-Kleidung-article23154290.html
https://augengeradeaus.net/2016/07/...epots-der-bundeswehr-wird-die-munition-knapp/
https://www.spiegel.de/politik/deut...ge-maengelliste-der-bundeswehr-a-1250526.html