Kurze Zeit später saß Danarra im Gemeinschaftsraum ihres Quartiers, gekleidet in normaler Hose und einem Hemd, vor sich den Teller mit den Häppchen und in ihrem Schoß das Notizbuch von Heliara. Eine kleine Tischlampe neben ihrem Sessel war die einzige Beleuchtung im Raum und sie achtete darauf, nicht allzu viel Lärm zu machen. Die beiden Männer hatten sich anscheinend in ihre Räume zurück gezogen und sie wusste nicht, ob sie schliefen.
Immer wieder durchblätterte sie die Seiten des kleinen Büchleins und suchte nach noch nicht entdeckten Hinweisen. Was hatten die Kulte vor? Was war ihr nächstes Ziel?
Ihr Kristall fiepte und als sie ihn aktivierte, meldete sich eine Männerstimme, die sie sofort erkannte: der Agent, der sie nach der Schießerei vor einigen Stunden zurück in die Botschaft gebracht und der ihr seinen Kontakt gegeben hatte. Sie hatten die Gefangenen befragt und nicht viel herausgefunden, wurde ihr erklärt. Wer die Auftraggeber des Hinterhalt waren, konnte nicht ermittelt werden, nur dass sie anscheinend aus den nördlichen Industrievierteln heraus operierten.
Dort waren die Attentäter auch aus den Reihen der Werksarbeiter angeheuert worden. Sie waren keine Agenten irgendwelcher Handelshäuser, sondern einfache Mechaniker und Schweißer. Danarra schloss entnervt die Augen.
Ihr Kontakt am anderen Ende der Verbindung hatte aber noch weitere Informationen für sie: die angeheuerten Schläger hatten wenigstens offenbaren können, dass sie am morgigen Mittag ihre Belohnung in der Luftschiffstraße 107 abholen sollten. Auch diese lag im Industrieviertel und falls Danarra und ihre Gruppe keinen Zugriff durchführen wollte, würden die Rileah Agenten dies übernehmen.
Danarra versprach, dies mit ihren Begleitern abzusprechen und den Agenten schnellst möglichst Bescheid zu geben. Sie bedankte sich und beendete das Gespräch.
Die Agenten würden die Botschaft und eventuell sogar Renae so oder so informieren, da war Danarra sich sicher. Somit musste sie nur noch mit Ossegar und Matthew sprechen. Sie erhob sich aus dem Sessel und klopfte simultan an den beiden Schlafzimmertüren, die nebeneinander lagen.
Matthews Türe öffnete sich fast augenblicklich. Er war in einen seiner feinen Anzüge gekleidet und richtete sich noch seinen Schal und in seinen Augen konnte Danarra einen Glanz erkennen, den sie aus ihrer Zeit in der Drogenabteilung kannte. Und wie sie Matthew kannte, war es für ihn kein Problem gewesen, sich von den Hausdienern belebende Substanzen besorgen zu lassen, um doch noch am Ball teilzunehmen...
Matthew sah sie von oben bis unten an. "Ich dachte, Du wärst auf dem Ball?" Er wirkte enttäuscht und beinahe tat er Danarra leid.
Die Türe zu Ossegars Zimmer blieb weiterhin verschlossen und nur ein leises Murmeln war von dort zu hören. Danarra klopfte erneut ohne den Blick von Matthew zu lösen.
"Ich war auf dem Ball. Und jetzt bin ich von dieser schrecklichen Zurschaustellung zurück und geh auch nicht mehr hin."
"Das ist... schade." Ja, Matthew war ernsthaft enttäuscht. "Gibt es einen Grund, dass du...?" Er deutete auf die Türe.
"Ich wollte nur sagen, dass die Agenten die Kerle von heute verhört haben und die wollten sich morgen mit den Leuten hinter der ganzen Sache treffen. Im Industrieplex."
Matthew richtete weiter seinen Schal, hörte aber mit gerunzelter Stirn zu.
Danarra fuhr fort: "Wir hätten also eine neue Spur... und Karten für das morgige Triballspiel. Mit besten Grüßen von der de'Erino Familie." Sie verzog ihr Gesicht.
Matthew lächelte sie erwartungsvoll an.
Sie holte tief Luft. "Und... wollen wir das?"
Matthews Lächeln verwandelte sich in ein verzweifeltes Grinsen. "Kannst du dich noch erinnern, was bei der letzten Sportveranstaltung passierte, auf der wir zusammen waren?"
"Das nennst du einen Sportveranstaltung?" Natürlich konnte sich Danarra noch an den Abend in der illegalen Arena erinnern. "Ernsthaft?"
"Meinst du, die Wilden hier haben bessere Sportarten? Hast du dir die Stadt schonmal angeschaut?" Er schüttelte ungläubig den Kopf.
Danarra sah ihn nur stillschweigend an und lehnte sich an den Türrahmen.
Matthew seufzte. "Also wohin gehen wir?"
"Das Triballspiel ist er am Abend, wir könnten also beide Termine wahrnehmen. Darum wollte ich Euch ja einbeziehen." Sie nutzte diesen Augenblick und hämmerte noch einmal gegen Ossegars Türe. "Kommt mal raus, Meister Zwerg!"
Langsam wurde sie ungeduldig.
Durch die geschlossene Türe drang die grummelige Stimme des Techno-Klerikers. "Herein!"
Nun wirklich entnervt drehte Danarra an der Türklinge und sah in den düsteren Raum, in dem nur eine Schreibtischlampe den gerade mit Kabeln und Werkzeugen übersähten Arbeitsplatz des Zwerges beleuchtete.
Kurz blickte Ossegar auf, dann schraubte er weiter an einer seiner Drohnen. Kopfschüttelnd konzentrierte sich Danarra wieder auf Matthew.
"Die Agenten, die uns heute hier hergebracht haben, können auch bei diesem Treffen im Industrieplex vorbeischauen."
Matthew überlegte kurz. "Das wäre nicht einmal so schlecht. Wir sind da nicht wirklich gut weg gekommen."
"Und das waren nur angeheuerte Schläger aus einer der Fabriken..."
"Das waren Schläger?" Seine Augenbrauen schossen nach oben. "Mit vergifteten Bolzen?"
Danarra winkte ab. "Die haben die doch von ihren Auftraggebern bekommen. Und denen würde ich dann halt wirklich ungern in einer solchen Lage über den Weg laufen..."
"Neue Heilung gibt es erst morgen!" Die tiefe und vorwurfsvolle Stimme Ossegars drang aus dem Nachbarzimmer zu ihnen herüber.
Matthews Antwort war weder freundlicher, noch leiser. "Ja, danke!"
Kurz sammelte sich Danarra, dann drehte sie sich zum Eingang von Ossegars Raum. "Es wäre schön, wenn Ihr im selben Zimmer wäret, wenn Ihr mit uns sprecht." Auch ihre Stimme zeigte Anzeichen von Gereiztheit.
Blinzelnd schaute Matthew nach unten, auf seine und auf Danarras Schuhe und auf die Teppichfalte, die den Gemeinschaftsraum von seinem Schlafgemach trennte. "Um ehrlich zu sein, sind wir ja auch nicht im selben Zimmer."
Danarra sah ihn drohend an und wieder meldete sich Ossegar zu Wort: "Die Türe ist doch offen." Dann war nur noch unverständliches Murmeln zu hören.
Sie hatte sich vorgenommen, niemanden den Kopf ab zu beißen und Danarra schwor sich, dass auch ihre beiden Kollegen dies nicht heraufbeschwören konnten. Sie atmete langsam ein und aus und zählte bis zehn.
Dann wendete sie sich dem dunklen Fenster im Geimschaftraum zu, holte ihren Kommunikationskristall hervor und wählte die Verbindung zu ihrem Kontaktmann. Sofort meldete er sich und Danarra bat ihn, die Operation selbst in die Hand zu nehmen. Sie wünschte ihm und seiner Gruppe viel Erfolg und deaktivierte den Kristall.
Als sie sich wieder herum drehte, sah sie Matthew, der sich seine Weste zurecht zog und nach seinem Ausgehrock griff.
"Warum putzt du Dich weiter 'raus?"
"Nun ja. Zuerst wollte ich auf den Ball und Dir den Abend retten..." Er lächelte charmant und Danarra dankte der Drachengöttin, dass Matthew sie nicht in Renaes Aufzug gesehen hatte. Er nahm seinen Gehstock in die Hand. "...wir können aber immer noch auch einfach so einen trinken gehen."
Sie lächelte ihn an und entspannte sich. "Das können wir." Matthew wollte ihr schon den Arm anbieten, damit sie sich einhaken konnte, als sie zögerte und mit einem Daumen auf Ossegars Zimmer deutete. "Nehmen wir den Zwerg mit? Wir wären wie eine kleine Familie... mit einem dicken, bärtigen Kind." Matthew grinste sardonisch.
"Ich kann Euch hören..." Die Stimme des Techno-Klerikers klang missmutiger als gewohnt.