David Somerset
Dr. rer. nat.
Das Urteil beruht im Wesentlichen auf folgenden Erwägungen:
1. Das Europawahlgesetz ist als deutsches Bundesrecht an den im
Grundgesetz verankerten Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit und
Chancengleichheit der politischen Parteien zu messen. Der Grundsatz der
Gleichheit der Wahl gebietet bei der Verhältniswahl, die auch für die
Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments gilt, dass - über die
Zählwertgleichheit hinaus - jeder Wähler mit seiner Stimme den gleichen
Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden Vertretung haben muss.
Der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien verlangt, dass jeder
Partei grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten
Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze
eingeräumt werden.
Die Fünf-Prozent-Sperrklausel bewirkt eine Ungleichgewichtung der
Wählerstimmen hinsichtlich ihres Erfolgswerts, weil diejenigen
Wählerstimmen, die für Parteien abgegeben worden sind, die an der
Sperrklausel gescheitert sind, ohne Erfolg bleiben. Zugleich wird durch
die Fünf-Prozent-Sperrklausel der Anspruch der politischen Parteien auf
Chancengleichheit beeinträchtigt.
Differenzierende Regelungen bei der Wahlrechtsgleichheit und
Chancengleichheit der Parteien bedürfen stets eines besonderen, sachlich
legitimierten, „zwingenden“ Grundes. Sie müssen zur Verfolgung ihrer
Zwecke geeignet und erforderlich sein.
Der Gesetzgeber hat eine die Wahlgleichheit und die Chancengleichheit
berührende Regelung des Wahlrechts zu überprüfen und gegebenenfalls zu
ändern, wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Norm durch
neue Entwicklungen in Frage gestellt wird.
Für Differenzierungen verbleibt dem Gesetzgeber nur ein eng bemessener
Spielraum. Die Ausgestaltung des Europawahlrechts unterliegt einer
strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle, weil die Gefahr besteht,
dass der deutsche Wahlgesetzgeber mit einer Mehrheit von Abgeordneten
die Wahl eigener Parteien auf europäischer Ebene durch eine Sperrklausel
und den hierdurch bewirkten Ausschluss kleinerer Parteien absichern
könnte. Die allgemeine und abstrakte Behauptung, durch den Wegfall der
Fünf-Prozent-Sperrklausel werde der Einzug kleinerer Parteien und
Wählergemeinschaften in die Vertretungsorgane erleichtert und dadurch
die Willensbildung in diesen Organen erschwert, kann den Eingriff in die
Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit nicht
rechtfertigen. Zur Rechtfertigung der Fünf-Prozent-Sperrklausel bedarf
es vielmehr der mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartenden
Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Vertretungsorgane.
2. Nach diesen Maßstäben durfte die Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht
beibehalten werden. Die bei der Europawahl 2009 gegebenen und
fortbestehenden tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse bieten keine
hinreichenden Gründe, die den mit der Sperrklausel verbundenen
schwerwiegenden Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und
der Chancengleichheit der politischen Parteien rechtfertigen.
Die Einschätzung des Gesetzgebers, dass das Europäische Parlament mit
dem Wegfall der Fünf-Prozent-Sperrklausel in seiner Funktionsfähigkeit
beeinträchtigt werde, kann sich nicht auf ausreichende tatsächliche
Grundlagen stützen und trägt den spezifischen Arbeitsbedingungen des
Europäischen Parlaments sowie seiner Aufgabenstellung nicht angemessen
Rechnung. Zwar ist zu erwarten, dass ohne Sperrklausel in Deutschland -
sowie unter Berücksichtigung einer möglichen Beseitigung von
Zugangsbeschränkungen in anderen Mitgliedstaaten - die Zahl der nur mit
einem oder zwei Abgeordneten im Europäischen Parlament vertretenen
Parteien zunimmt und es sich dabei auch nicht um eine zu
vernachlässigende Größenordnung handelt. Ohne Sperrklausel in
Deutschland wären statt aktuell 162 dann 169 Parteien im Europäischen
Parlament vertreten. Es ist jedoch nicht erkennbar, dass dadurch die
Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments mit der erforderlichen
Wahrscheinlichkeit beeinträchtigt würde. Zentrale Arbeitseinheiten des
Europäischen Parlaments sind die Fraktionen, die über eine erhebliche
Integrationskraft verfügen und es über die Jahre hinweg vermocht haben,
namentlich die im Zuge der Erweiterungen der Europäischen Union
hinzutretenden Parteien trotz der großen Bandbreite der verschiedenen
politischen Strömungen zu integrieren. Nach diesen Erfahrungen ist
jedenfalls grundsätzlich davon auszugehen, dass auch weitere
Kleinparteien, die beim Fortfall der Sperrklauseln im Europäischen
Parlament vertreten wären, sich den bestehenden Fraktionen anschließen
können.
Gleiches gilt für die Fähigkeit der Fraktionen, durch Absprachen in
angemessener Zeit zu Mehrheitsentscheidungen zu kommen. Die
„etablierten“ Fraktionen im Europäischen Parlament haben sich in der
parlamentarischen Praxis kooperationsbereit gezeigt und sind in der
Lage, die erforderlichen Abstimmungsmehrheiten zu organisieren. Es ist
nicht ersichtlich, dass bei Wegfall der Fünf-Prozent-Sperrklausel mit
Abgeordneten kleiner Parteien in einer Größenordnung zu rechnen wäre,
die es den vorhandenen politischen Gruppierungen im Europäischen
Parlament unmöglich machen würde, in einem geordneten parlamentarischen
Prozess zu Entscheidungen zu kommen. Schließlich zeigt die Entwicklung
des Europäischen Parlaments, dass entsprechende Anpassungen der
parlamentarischen Arbeit an veränderte Gegebenheiten wie etwa eine
Zunahme der Zahl fraktionsloser Abgeordneter zu erwarten sind.
Zwar ist von den in der mündlichen Verhandlung gehörten Sachkundigen und
Abgeordneten des Europäischen Parlaments übereinstimmend die Erwartung
geäußert worden, dass mit dem Einzug weiterer Kleinparteien in das
Europäische Parlament die Mehrheitsgewinnung erschwert werde. Damit
allein ist jedoch noch keine hinreichend wahrscheinlich zu erwartende
Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments
dargelegt.
Des Weiteren sind die Aufgaben des Europäischen Parlaments durch die
europäischen Verträge so ausgestaltet, dass es an zwingenden Gründen, in
die Wahl- und Chancengleichheit einzugreifen, fehlt. Eine - bei der Wahl
zum Deutschen Bundestag - vergleichbare Interessenlage besteht auf
europäischer Ebene nach den europäischen Verträgen nicht. Das
Europäische Parlament wählt keine Unionsregierung, die auf seine
fortlaufende Unterstützung angewiesen wäre. Ebenso wenig ist die
Gesetzgebung der Union von einer gleichbleibenden Mehrheit im
Europäischen Parlament abhängig, die von einer stabilen Koalition
bestimmter Fraktionen gebildet würde und der eine Opposition
gegenüberstünde. Zudem ist die unionale Gesetzgebung nach dem
Primärrecht so konzipiert, dass sie nicht von bestimmten
Mehrheitsverhältnissen im Europäischen Parlament abhängig ist.
3. Die gegen die Wahl nach „starren“ Listen erhobene Rüge greift dagegen
nicht durch. Nach dem Unionsrecht bleibt es den Mitgliedstaaten
vorbehalten, sich entweder für eine Wahl mit gebundenen - durch den
Wähler nicht veränderbaren - Listen oder für offene - die Möglichkeit
der Veränderung der Reihenfolge der Wahlbewerber auf den Wahlvorschlägen
gewährende - Listen zu entscheiden. Das Bundesverfassungsgericht hat
bereits für nationale Wahlen wiederholt festgestellt, dass die Wahl nach
„starren“ Listen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Neue
Argumente, die für die Europawahl Anlass zu einer anderen Beurteilung
geben könnten, sind nicht vorgetragen worden.
4. Die Verfassungswidrigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel hat die
Nichtigerklärung der sie regelnden Bestimmung des § 2 Abs. 7 EuWG zur
Folge. Der Wahlfehler führt jedoch nicht dazu, die Wahl zum Europäischen
Parlament des Jahres 2009 in Deutschland für ungültig zu erklären und
eine erneute Wahl anzuordnen. Denn im Rahmen der gebotenen Abwägung ist
dem Bestandsschutz der im Vertrauen auf die Verfassungsmäßigkeit des
Europawahlgesetzes zusammengesetzten Volksvertretung Vorrang gegenüber
der Durchsetzung des festgestellten Wahlfehlers einzuräumen. Eine
Neuwahl in Deutschland wirkte sich störend und mit nicht abschätzbaren
Folgen auf die laufende Arbeit des Europäischen Parlaments aus,
insbesondere auf die Zusammenarbeit der Abgeordneten in den Fraktionen
und Ausschüssen. Demgegenüber ist der Wahlfehler nicht als
„unerträglich“ anzusehen. Er betrifft nur einen geringen Anteil der
Abgeordneten des deutschen Kontingents und stellt die Legitimation der
deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments in ihrer Gesamtheit
nicht in Frage.
Das Bundesverfassungsgericht