Tagespolitik allgemein

Nur das in Paris kein einziges militärisch, wirtschaftlich oder politisch relevantes Ziel angegriffen wurde. Das war keine asymmetrische Kriegsführung, sondern schlicht wahlloser Terrorismus gegen Zivilisten.

Jo, braucht du mir nicht zu sagen. Allerdings sieht der IS das wahrscheinlich anders. Für sie ist es die Antwort auf die Bombenangriffe.
Diese Logik teile ich nicht, aber sie schon.
 
In diesem Fall würden die Ziele schon bewusst ausgewählt. Sie wollten ins Stadion ( weltweite Medienpräsenz ). Sie sind bewusst zum Konzert ( laut deren Ausagen, ein Ort der Schande usw ).

Naja, die Bekennerschreiben sind jetzt nicht so formuliert, dass sie irgendein Insiderwissen vermuten lassen. Die haben wohl eher geschaut was die Attentäter reißen und dann was dazu geschrieben.
 
Da es so gut passt, hier ein zugegeben sehr langer Facebook-Post zum Thema von Jürgen Todenhöfer, der selbst einige Tage im Islamischen Staat lebte und dabei hautnahe Eindrücke sammeln konnte:

Liebe Freunde, wer ein Herz hat, ist heute in Gedanken bei den Opfern von Paris. Und trauert und weint mit ihren Familien. Mord ist Mord, egal wer ihn begeht. Heute bin ich Franzose.

Für Terrorismus kann es keine Entschuldigung geben, aber es gibt Ursachen. Nicht der Islam ist die Ursache des IS-Terrors, sondern die Kriege des Westens. Vor allem der Irakkrieg von George W. Bush, der schon im Oktober 2003 zur Gründung des IS führte.

Wir dürfen nicht vergessen, dass der Westen im Mittleren Osten seit Jahrzehnten gemordet hat. Millionen Muslime, Frauen und Kinder hat er gefoltert und getötet. Die meisten Westler hat das nie wirklich interessiert. Es waren ja nur Muslime, die da starben. Jeden Tag töten auch heute noch Amerikaner, Russen, Franzosen in Syrien zahllose Zivilisten. Trauern wir um sie?

Der Westen hat im Mittleren Osten Krieg gesät. Jetzt kommt der Krieg nach Europa zurück. Und wir erkennen nicht, dass es unsere eigene Gewalt ist, die wie ein Bumerang auf uns zurückschlägt. Sartre hat das schon vor Jahrzehnten vorausgesagt. Erst wenn wir die Rolle des Westens richtig analysieren, können wir die endlose Spirale von Gewalt und Gegengewalt durchbrechen.

Frankreich ist nicht Deutschland. Die französische Regierung hat im Mittleren Osten eine besonders dunkle Vergangenheit. Als Kolonialmacht und als militärischer Aggressor. Deutschland nicht. Wenn es darum ging, in der muslimischen Welt militärisch zu intervenieren war Frankreich immer vorne dabei. 1 Million Algerier haben die Franzosen ermordet. Am Suezkanal, in Libyen, in Mali und in vielen anderen Ländern haben ihre Truppen brutal zugeschlagen.

Ihre rassistische Integrationspolitik ist gescheitert. Die Vororte der französischen Städte sind eine Brutstätte der Kriminalität und des Terrorismus. In Frankreich hat der IS es leicht, Verbündete zu finden. Das ist nicht die Schuld der einfachen Franzosen. Und schon gar nicht die der unschuldigen Opfer von Paris. Aber sehr wohl die von Männern wie Sarkozy. Ich liebe Frankreich und habe dort studiert. Meine Kinder haben die französische Staatsangehörigkeit. Doch die aggressive Außenpolitik Frankreichs lehne ich ab.

Deutschland muss nicht das gleiche tragische Schicksal erleiden wie Frankreich. Wenn unsere Führung sich für faire und kluge Lösungen im Mittleren Osten einsetzt, wenn sie aufhört, Waffen in die dortigen Kriegsgebiete zu liefern, wenn sie die muslimische Welt und wenn wir alle unsere muslimischen Mitbürger endlich so behandeln, wie wir selbst behandelt werden wollen. Das Zauberwort im Kampf gegen den Terrorismus heißt 'faire Integration'.

Über 99,9 Prozent der 5 Millionen deutschen Muslime lehnen den IS ab. Der IS betrachtet die demokratischen Muslime von Deutschland als Todfeinde. Immer wieder hat man mir das im 'Islamischen Staat' gesagt. Von den etwa 9.000 deutschen Salafisten sind maximal 3.000 gewaltbereit und damit potentielle Anhänger des IS. Das heißt, im Kampf gegen den Terrorismus ist die überwältigende Mehrheit der Muslime unser wichtigster Verbündeter.

Ich appelliere daher heute an alle Gewalt ablehnenden Salafisten und an die 99.9 Prozent gemäßigten Muslime Deutschlands: 'Bitte helft mit, dass wir in Deutschland keine französischen oder englischen Verhältnisse bekommen. In den letzten Jahrzehnten hat kein einziger 'Islamist' einen Deutschen in Deutschland getötet. Helft mit, dass das so bleibt! Der IS ist nicht nur eine Gefahr für Nichtmuslime. Er ist auch eine große Gefahr für den Islam'. Ihr dürft jetzt nicht tatenlos zuschauen. Deutschland ist auch Eure Heimat. Helft mit, den Frieden auf unseren Straßen zu bewahren.'

An die nicht-muslimischen Deutschen appelliere ich: 'Nehmt unsere muslimischen Mitbürger und Freunde jetzt nicht in Kollektivhaft. Sie können für den perversen IS-Terror genauso wenig wie Ihr für den perversen Terror der deutschen Rechtsradikalen, die Flüchtlingsheime anzünden und die seit der Wiedervereinigung 180 Menschen teilweise bestialisch ermordet haben.'

Den Attentätern von Paris aber sage ich: 'Ihr seid Gotteslästerer! Es ist eine anmaßende Beleidigung Gottes, wenn Ihr Euch bei der Ermordung Unschuldiger auf Allah beruft, den der Koran den 'Allerbarmer und Barmherzigen' nennt. Wer gibt Euch das Recht, Gott mit Euren Gewaltphantasien zu besudeln?

Den Koran muss man mit dem Herzen lesen, nicht mit der Kalaschnikow. Dann findet man wunderbare Anweisungen Gottes. An ihnen hättet Ihr Euer Leben ausrichten sollen. Der Koran sagt:

1.) 'Ihr sollt glauben und gute Werke tun' (25:70). Gott liebt diejenigen, die Gutes tun.' (2:195).

2.) 'Gott verbietet, was schändlich, abscheulich und gewalttätig ist.' (16.90).

3.) 'Wehrt das Böse durch das Gute ab.' (13:22).

4.) 'Richtet auf Erden kein Unheil an.' (2:60).

5.) 'Stiftet Frieden unter den Menschen.' (2:224).

6.) 'Wer vergibt, ruht sicher bei Gott.' (42:40).

7.) 'Bringt Euch nicht selbst ums Leben!' (4:29). (Verbot des Selbstmords).

8.) 'Wenn Ihr einen Menschen tötet, so ist es, als hättet Ihr die ganze Menschheit getötet' (5:32). Gott verbietet ausdrücklich die Tötung Unschuldiger.

Mit Euren barbarischen Morden werdet Ihr nie ins Paradies kommen. Sondern allenfalls neben George W. Bush in der Hölle braten. Ihr seid verlorene Seelen. Für diese Welt und für das Jenseits.

Euer JT
Meiner Meinung nach trifft er in vielen Dingen (wenn nicht in allen) den Nagel auf den Kopf ;)
 
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Da es so gut passt, hier ein zugegeben sehr langer Facebook-Post zum Thema von Jürgen Todenhöfer, der selbst einige Tage im Islamischen Staat lebte und dabei hautnahe Eindrücke sammeltn konnte:


Meiner Meinung nach trifft er in vielen Dingen den Nagel auf den Kopf ;)

Ja klar macht die Hälfte der Aussagen schon Sinn, aber viele sind auch total überzogen. Objektiv ist was Anderes. Klingt auch irgendwie wie wenn er nach Aufmerksamkeit schreit.
 
Ja, deine Aussage unterstellt halt einen gewissen diletantismus, was den IS betrifft: "Die haben wohl eher geschaut was die Attentäter reißen".

Nee, ich unterstelle das nicht, ich vermute was anderes. Nämlich, dass radikalisierte Leute Geld, vielleicht auch Ausbildung vom IS erhalten haben und die dann entschieden haben was sie angreifen. Der IS hat dann geschaut was angegriffen wurde und eine fadenscheinige Begründung abgeliefert.

Bei den Anschlägen von Januar hat der IS auch gesagt, dass sie es waren. Detaillierte Informationen zu den Attentätern hat dann aber die Organisation Al-Qaida in Jemen geliefert.
 
Nee, ich unterstelle das nicht, ich vermute was anderes. Nämlich, dass radikalisierte Leute Geld, vielleicht auch Ausbildung vom IS erhalten haben und die dann entschieden haben was sie angreifen. Der IS hat dann geschaut was angegriffen wurde und eine fadenscheinige Begründung abgeliefert.

Bei den Anschlägen von Januar hat der IS auch gesagt, dass sie es waren. Detaillierte Informationen zu den Attentätern hat dann aber die Organisation Al-Qaida in Jemen geliefert.

Klingt plausibel und schlüssig, danke für den Ansatz.
 
Ja klar macht die Hälfte der Aussagen schon Sinn, aber viele sind auch total überzogen. Objektiv ist was Anderes. Klingt auch irgendwie wie wenn er nach Aufmerksamkeit schreit.
Er schreibt ja von seiner FB-Seite aus und nichts als Journalist ;) Wenn ich auf FB etwas poste, ist das ja in der Regel auch nicht objektiv.
Jedoch halte ich z.B. die Aussage, dass der Westen mit seinen regelmäßigen Interventionen - nicht selten aus purem Egoismus - das Rad der Gewalt im Nahen Osten immer weiter mit am Laufen hält, durchaus für objektiv. Ob George W. Bush jetzt deswegen in der Hölle schmorrt, liegt nicht an mir zu bewerten^^
 
Er schreibt ja von seiner FB-Seite aus und nichts als Journalist ;) Wenn ich auf FB etwas poste, ist das ja in der Regel auch nicht objektiv.
Jedoch halte ich z.B. die Aussage, dass der Westen mit seinen regelmäßigen Interventionen - nicht selten aus purem Egoismus - das Rad der Gewalt im Nahen Osten immer weiter mit am Laufen hält, durchaus für objektiv. Ob George W. Bush jetzt deswegen in der Hölle schmorrt, liegt nicht an mir zu bewerten^^
Ah ok alle klar ;), ich kann den Typen ein einfach nicht seriös nehmen.

Das Problem liegt klar in der Vergangenheit vom Kalten Krieg, bis zur lügerischen Irak Besetzung von Bush Junior. Aber man darf auch eine Weiterentwicklung von den Menschen vor Ort erwarten. Oder? Natürlich ist das auch immer leicht gesagt. Die Wahrheit liegt wohl auch hier in der Mitte. Zumindest im Graubereich.
 
Ah ok alle klar ;), ich kann den Typen ein einfach nicht seriös nehmen.

Das Problem liegt klar in der Vergangenheit vom Kalten Krieg, bis zur lügerischen Irak Besetzung von Bush Junior. Aber man darf auch eine Weiterentwicklung von den Menschen vor Ort erwarten. Oder? Natürlich ist das auch immer leicht gesagt. Die Wahrheit liegt wohl auch hier in der Mitte. Zumindest im Graubereich.
Wie sollen sich die Menschen vor Ort denn weiterentwickeln, wenn wir ihnen ständig mit unserem westlichen Demokratie-Banner in die Parade fahren? Wie sollen sie sich denn weiterentwickeln, wenn der Westen in einer schier endlosen Abfolge immer wieder einzelne Gruppen dort unterstützt, um andere kleinzuhalten, ganz dem Teile und Herrsche-Prinzip folgend? Wir müssen den Menschen im Nahen Osten auch endlich die Chance geben, eigene Lösungen zu entwickeln. Mit Bomben auf ihren Köpfen wird das sicher nicht passieren. Ich wage einfach zu bezweifeln, dass der IS, selbst wenn er sein Kalifat errichtete, es auch würde lange halten können. Es gibt ja dieses alte Prinzip, dass jeder, der mit Gewalt an die Macht kommt, mit Gewalt auch wieder abgesetzt werden wird. Nur wird der Westen diese Entwicklung nicht herbeiführen können. Das funktioniert nur, wenn gemäßigte Sunniten, Shiiten, Christen, Jesiden und Alawiten genauso wie Araber und Kurden, Saudis und Ägypter endlich mal an einem Strang ziehen. Und das wiederum wird wohl erst passieren, wenn der IS sich tatsächlich etabliert hat. So bitter das auch klingt: Der Zusammenhalt im Nahen Osten wird wohl erst im dunkelsten Moment desselben zur Entfaltung kommen. Vorher werden weiter munter die syrischen Rebellen die Assad-Truppen beschießen, die Hizbollah die Rebellen, Israel die Hizbollah, die Palästinenser Israel etc. Nicht zu vergessen, dass die USA derzeit die Truppen ausbildet, die die Russen dann bombardieren, während die Türken unter dem Vorwand, den IS zu bekämpfen wiederum PKK-Stellungen angreifen. Es ist genau der Flickenteppich, den wir im europäischen Mittelalter hatten. Genauso wird irgendwann auch eine Islamische Aufklärung kommen, fragt sich nur, wie lange es noch dauert. Ich bin aber überzeugt davon, dass auch die Bewohner des Nahen Ostens irgendwann so ausgeblutet und kriegsmüde sein werden, dass ihnen gar nichts anderes übrig bleibt als über Alternativen nachzudenken. Inshallah passiert das eher früher als später ;)
 
Der unvermeidliche Todenhöfer mit seinem unreflektiertem Selbsthass auf "den Westen"™ darf natürlich nicht fehlen. Wäre wohl zuviel verlangt, dass er mal etwas über seinen Schatten springt, aber bei ihm hat die Wandlung vom "Stahlhelm-Saulus" zum vermeintlichtlichen Paulus wohl auch die Fähigkeit zum Hinterfragen der eigenen Thesen eingeschränkt.

Todenhöfer-These 1: Der Irak-Krieg 2003 sei verantwortlich für den Aufstieg des IS. In der Geschichtswissenschaft spricht man oft von "langen Linien" und "kurzen Linien", die zu einer bestimmten Situation führen. Die kurze Linie wäre in diesem Fall also der Irak-Krieg 2003, die lange Linie die Vorgeschichte der Region. Nicht wenige Mitglieder der Führungsriege des IS stammen aus islamistischen Kreisen, die bereits im Libanon der 70er- und 80er-Jahre aktiv waren. Die Vordenker des (gewalttätigen) Islamismus sind sogar noch älter, manche Forscher machen den Beginn dieser Strömung bereits an dem Gelehrten Ibn Taimīya (1263-1328), dessen Vorstellungen von der "Reinigung" des sunnitischen Islam von allen "verderblichen" Einflüssen sowie absolute Intoleranz (bis hin zur Ermordung) gegenüber Schiiten, Alawiten, Sufis, Christen, Juden und muslimischen Intellektuellen, die Interesse an der griechischen und römischen Philosophie hatten, im Grunde die Blaupause für die im 18. und 19. aufkommende Bewegung der Salafisten/Wahabiten und dem IS lieferten. Man beschreibt den Islamismus ja oft als Gegenbewegung zur westlichen Kolonialherrschaft und später als Identitätsstifter im Kalten Krieg, was auch durchaus zutrifft. Hierbei ignoriert man aber die Tatsache, dass die westliche Kolonialherrschaft vergleichsweise kurz war (in manchen Fällen weniger als 50 Jahre) und die arabische Halbinsel zuvor viele Jahrhunderte von den Osmanen beherrscht wurde, die nicht wenige Araber als Fremde empfanden. Nach der Unabhängigkeit wurden viele islamische Staaten sozialistisch (Ägypten, Syrien) und von Autokraten beherrscht, die im Sinne der sozialistischen Vorstellungen Versuche unternahmen, die Religion zurückzudrängen, gleichzeitig durch ihre brutale Unterdrückungspolitik aber eben auch für Armut, Korruption, fehlende Grundrechte und kaum politische Partizipation sorgten, wodurch das Vertrauen in den Staat erschüttert wurde, dieser als feindlich wahrgenommen wurde und viele Menschen sich verstärkt (radikalen) religiösen Bewegungen zu wandten. Ebenso aber war kaum einer dieser Staaten wirklich säkular, wenn es opportun erschien, bedienten sich viele Diktatoren auch religiös verbrämter Rhetorik (so z. B. Saddam Hussein während des Iran-Irak-Kriegs, übrigens wurden in dieser Zeit auch islamistisch eingestellte Soldaten und Offiziere von der Baath-Partei geduldet, in diesem Vorgehen liegt eine der Keimzellen des heutigen IS).

Die angebliche Stabilität, die diese Diktatoren immer wieder beschworen, war also keine, im Grund verhielt es sich ähnlich wie bei einem Dampfkessel: Je länger und stärker der Deckel drauf gehalten wird, desto stärker die Entladung. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Autokraten nicht selten die Großmächte USA und Sowjetunion gegeneinander ausspielten und mit dem Seitenwechsel kokettierten, um sich so Unterstützung zu sichern, die Vorstellung, dass was in Washington und Moskau gerne gesehen worden wäre, 1:1 von den vermeintlichen "Marionetten" umgesetzt wurde, ist also nicht zutreffend. Internationale Beziehungen sind weitaus komplizierter und die regionalen Akteure vertreten und vertraten in erster Linie ihre eigenen Interesse, die nicht zwingend mit denen ihrer "Gönner" konform gehen, ohne dass die Supermächte dagegen viel tun konnten oder können (Beispiel Ägypten).

Hinzu kommen die zahlreichen anderen Spannungsfaktoren: Der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, die wichtige Rolle des Clan-Wesen, die extremen wirtschaftlichen Unterschiede, Korruption, Nepotismus, der Unterdrückungsapparat in vielen Staaten, der eine friedliche demokratische Entwicklung verhindert, demographische Faktoren und nicht zuletzt der religiöse Fanatismus. Diese Konflikte sind alt, zum Teil stammen sie aus vorislamischer Zeit (Konflikt Araber/Perser).

Nach dem schnellen Sturz von Saddam Hussein 2003 (hier will ich mal über Gründe, Umstände, etc. hinweggehen) gab es im Irak die Möglichkeit, eine Demokratie aufzubauen. Die USA hielten sich merklich zurück und überließen den Irakern das Heft des Handelns (was übrigens auch die These von der "Marionetten-Regierung in Badgad ad absurdum führt), und was geschah? Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, Anbiederung der schiitischen Regierung an den Iran, gewaltige Instabilität im Land. Alles nicht im Interesse der USA. Kann man also die USA allein für die Probleme des Irak verantwortlich machen?

Todenhöfer-These 2: Millionen angeblich durch den Westen ermordete Muslime. Dazu nur ein kurzer Einwurf: Etwa 80% der im Irak getöteten Zivilisten wurden durch Angriffe der Aufständischen verursacht, durch Bombenanschläge auf Märkte, Schulen, Moscheen, Polizeistationen und Menschenansammlungen (sowie durch Gefechte zwischen Sunniten und Schiiten). Das Zahlenverhältnis ist in Afghanistan übrigens ähnlich. Es wäre mir neu, dass bei den Luftangriffen der Anti-IS-Koalition "zahllose" Zivilisten getötet werden, tatsächlich werden große Anstrengungen unternommen, um genau das zu vermeiden (nicht zuletzt aus PR-Gründen). Der überwältigende Anteil der getöteten syrischen Zivilisten wurde durch Assad-Truppen, den IS und verschiedene islamistische Rebellengruppen getötet (Massaker durch moderate Rebellen sind in großen Teilen unbestätigt, ich will dies aber nicht völlig ausschließen). Es wäre mir zudem neu, dass französische Truppen in Mali (Eingreifen gegen islamistische Rebellen, die zahlreiche Morde verübten und Kulturgüter vernichteten) oder in Libyen "brutal zugeschlagen" hätten (Von Gaddafi weiß man hingegen sehr wohl, dass er Befehle zu Massakern gab). Der Algerienkrieg war ein blutiger Unabhängigkeitskrieg, in dem Massaker und Vertreibungen auf beiden Seiten vorkamen, alle Kriegstoten allein Frankreich zuzuschreiben, ist historisch also falsch.

Ebenso darf man hier auch mal kritisch hinterfragen, wofür denn diese ganzen islamistischen Gruppierungen (Al-Qaida, IS, Boko Haram, Al-Schabab, etc.) kämpfen. Für die lokale Bevölkerung, die oft ihre größten Opfer sind und ihre Ziele meist ablehnen, wohl kaum. Diese islamistischen Gruppierungen terrorisieren Menschen, um ihre bestimmte Vorstellung eines "richtigen" Islam durchzusetzen, was bei Al-Qaida und dem IS übrigens in ganz konkreten Plänen zu weltweitem Massenmord und einer den ganzen Globus umspannenden religiösen Diktatur gipfelt. Spätestens da sollten doch auch in Deutschland aus historischer Erfahrung die Alarmglocken schrillen. Für viele Islamisten spielen zudem die westlichen Kriege gar keine so große Rolle, für sie sind "Ungläubige" schlicht per definitionem zu töten oder zu unterwerfen, ob sie nun kriegerisch aktiv sind oder nicht.

Im Grunde läuft es darauf hinaus: Werden Muslime durch Islamisten oder Diktatoren getötet, schweigt Herr Todenhöfer, denn da er kann dann nicht medienwirksam über "den Westen" klagen. Wer zudem unterwürfig-anbiedernde Treffen mit Diktatoren vom Schlage eines Baschar al-Assad veranstaltet, sollte vielleicht lieber nochmal darüber nachdenken, ob nur die anderen Heuchler sind.


Todenhöfer-These 3: Mangelnde Integration = Alleinschuld der westlichen Gesellschaft. Dass westliche Gesellschaften mehr tun könnten, um muslimische Einwanderer besser zu integrieren, will ich gar nicht bestreiten. Integration beruht allerdings auf Gegenseitigkeit, und wenn Herr Todenhöfer an die "friedlichen" Salafisten appelliert, schießt er in dieser Hinsicht glatt den Vogel ab. Friedlich oder nicht, Salafisten lehnen sämtliche westliche Wertvorstellungen inklusive Grundgesetz und FDGO kategorisch ab und versuchen über streng konservative Verbände dieses Weltbild in der eigentlich recht liberalen Gemeinde der muslimischen Deutschen zu verbreiten. So funktioniert Integration nie und nimmer.

Lobenswert ist es, die friedlichen Verse des Korans zu betonen. Das bedeutet allerdings nicht, dass man vernünftige, faktenbasierte Islamkritik (oder besser gesagt Kritik an den gewalttätigen oder anderweitig bedenklichen Passagen im Geiste Kants) einfach wegwischen kann. Es gibt auch in der Bibel gewalttätige, frauenfeindliche und andere unschöne Passagen und es gibt fundamentalistische Christen, es gibt radikale Buddhisten und Hindus, die Andersgläubige verfolgen, und diese Leute müssen sich zurecht Kritik anhören und nichts anderes sollte auch für den Islam gelten. Rassismus, Pauschalisierungen und dumpfe Feindbilder muss man dabei selbstredend vermeiden.

These 5: "Das westliche Demokratie-Banner." Könnte es nicht vielleicht sein, dass viele Menschen im Nahen Osten Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und eine faire Marktwirtschaft wollen? Sind dafür nicht viele Millionen auf den Straße gegangen? Jahrzehntelang wurden die Menschen im Nahen Osten von Diktatoren geknebelt, die hauptsächlich ihr eigenes Süppchen kochten. Im Westen bzw. in Zirkeln, die gerne den Westen für alles verantwortlich machen, ist noch viel zu sehr die Vorstellung verankert, dass diese Diktatoren allesamt brave Befehlsempfänger ihrer ausländischen Herren seien, aber dem ist nicht so. Saudi-Arabien verfolgt seine Interessen, Ägypten verfolgt seine Interessen, die Türkei verfolgt ihre Interessen, und der Westen kann gar nicht so schrecklich viel bewirken (man siehe z. B. das Gerangel um Luftwaffenstützpunkte in der Türkei). Interveniert der Westen, werden zunächst einmal natürlich die Strukturen zerschlagen und es kommt zu Machtkämpfen. Hier wäre langfristige, jahrzehntelange Aufbauarbeit und Unterstützung gefragt, aber das vermeidet man aus Sorge um die Kosten und nicht zuletzt auch wegen des "Imperialismus"-Geschreis, das dann prompt erfolgt (wobei das Geschrei auffällig leise war, als z. B. Syrien jahrelang den Libanon besetzt hielt).

Was sind überhaupt die westlichen Interessen im Nahen Osten, mal ganz konkret benannt: Stabilität (sprich keine radikalen Islamisten an der Macht, die Terrorgruppen fördern, eine Regierung, die nicht durch brutale Unterdrückung die Menschen in den Aufstand treibt), keine Angriffe gegen den Verbündeten Israel, ein einigermaßen zugänglicher Absatzmarkt für westliche Waren und Dienstleistungen und ein stabiler Ölpreis. That´s it. Kein "divide et impera", wie so verschwörungstheoretisch geraunt wird. Was hätte der Westen denn von ständige Konflikten und Umstürzen und Chaos? Nicht der Westen war es, der Gaddafi stürzte, sondern die Libyer. Nicht der Westen hat Ben Ali in Tunesien gestürzt, sondern die Tunesier. Der Westen reagierte auf die Entwicklung überrascht und unschlüssig, spricht nicht gerade für eine zielgerichtete Politik der Unterdrückung. Politik folgt meist nicht langristigen Plänen, sondern die Situation. Wenn Gruppe X an Land Y herantritt und von diesem unterstützt, verfolgen beide Seiten ihre eigenen Interessen, selbst wenn eine Seite scheinbar viel stärker ist als die andere. (Beispiel Afghanistan 1980er: Die USA hatten große Schwierigkeiten, sich ein Bild der Lage zu machen, da Afghanistan lange bestenfalls als Nebenschauplatz galt, und waren entsprechend abhängig von Pakistan, das seine eigenen Interessen verfolgte). Viele Jahre lang haben autokratische Regierungen immer die selbe Linie verkündet:"Wir oder das Chaos." Man übersieht dabei, dass gerade die Diktatoren, die damit ja ihre vermeintlichen "Herren" erpressten, selber die Grundlagen für das Chaos legten, indem sie keine Zivilgesellschaft zuließen. So, nun kann man den Westen gerne kritisieren, aber was sind denn die Optionen?

Regimewechsel? Interventionen sind ja laut bestimmter Lesart per se böse (wobei gerne vergessen wird, dass auch das demokratische Deutschland Ergebnis einer Intervention ist). Wirtschaftsembargo? Treibt die Menschen in die Armut und fördert nur das Regime oder radikale Gegenbewegungen. Gar nichts tun? Ändert nichts. Man wählte also die letzte Option, man arbeitet zähneknirschend mit den Regierungen zusammen. Das ist kein Meister-Diener-Verhältnis, in der der Westen alles diktiert, sondern ein Deal, bei dem die Diktatoren die Trümpfe in den Händen halten und das auch gerne ausnutzen.

Beispiel Saudi-Arabien: Innenpolitisch eine Mischung aus Monarchie und Theokratie. Die viele Mitglieder umfassende Königsfamilie schloss bei der Gründung ein Abkommen mit den radikalen wahabistischen Predigern:"Ihr stellt die Monarchie nicht in Frage und überlasst uns die Außenpolitik, im Gegenzug regelt ihr die Innenpolitik streng nach der Scharia und wir spenden großzügig an religiöse Verbände weltweit." Die Politik des Landes ist dementsprechend gespalten, Einzelpersonen und Gruppierungen (unter anderem einflussreiche Kleriker) innerhalb des Landes unterstützen finanziell Extremisten, die auch gegen die saudische Monarchie (Bin Laden) sind, außenpolitisch arbeitet man aus Eigeninteresse mit den USA zusammen. Das große offizielle Feindbild Saudi-Arabiens ist der Iran und umgekehrt ist es nicht anders.

Die Lage ist also kompliziert und wenn nun jemand wie Herr Todenhöfer daherkommt und davon faselt, dass der Westen Millionen Menschen ermordet habe und allein die Schuld trage, dann ist das schlicht unwahr und folgt einer Lesart, die Muslime immer nur als "Marionetten" oder Opfer anderer Mächte sieht, aber nie als eigenständig handelnde Akteure, zum Guten wie zum Schlechten. Das ist arrogant, von oben herab und entspricht ironischerweise genau der frühen Vorstellung, dass die westliche Zivilisation allmächtig sei, bei Todenhöfer und Co. aber wird das zur "bösartigen" Allmacht des Westens umgedeutet. Die Theorie, wonach alles im Nahen Osten Teil des großen, finsteren Masterplans der westlichen Politik sei, entspricht schlicht nicht den Tatsachen. Politik folgt den Bedürfnissen des Augenblicks, den Stimmungen, kurzfristigen Entscheidungen und selbst die besten Geheimdienste der Welt sind nicht einmal ansatzweise zu dem in der Lage, was Hollywood und Herr Todenhöfer glauben.


Hoppla, Entschuldigung. Das wurde jetzt viel länger, als eigtl. geplant, aber das Thema beschäftigt mich sehr.
 
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Hoppla, Entschuldigung. Das wurde jetzt viel länger, als eigtl. geplant, aber das Thema beschäftigt mich sehr.

@Janus Sturn Danke für deinen Beitrag.

Wenn nur manche Leute hier sich nur ansatzweise so Gedanken machen würden und nicht nur Stammtischparolen um sich werfen würden, dann könnte man bestimmt die eine oder andere müssige Diskussion sparen.
 
Wenn nur manche Leute hier sich nur ansatzweise so Gedanken machen würden und nicht nur Stammtischparolen um sich werfen würden, dann könnte man bestimmt die eine oder andere müssige Diskussion sparen.
Ich finde diese Diskussionen, egal von welchen Leuten und in welcher Weise sie von denen losgetreten werden, interessant. Hauptsache man hat die Gelegenheit, solche Stammtischparolen nicht unbeanwortet und somit ohne Kritik gelten zu lassen.
 
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