Im Jahr 2017 nahm ich an einer zweiwöchigen Studienreise durch den Iran teil. Unser Reiseleiter war ein etwa vierzigjähriger Iraner, der zehn Jahre in Deutschland Chemie studiert hatte, das Studium jedoch nie abschloss. Bereits am zweiten Tag in Teheran bekannte er sich uns gegenüber offen als Atheist – eine bemerkenswerte Offenheit in einem Land, in dem solche Überzeugungen gefährlich sein können. Vom herrschenden Mullah-Regime hielt er, das machte er deutlich, nichts.
Während einer der langen Busfahrten, die unsere Rundreise durch das weite Land begleiteten, kamen wir auf die Zukunft des Iran zu sprechen. Seine Haltung war klar und bestimmt: Er war überzeugt, dass der Iran langfristig zerfallen werde, sobald die zentrale Staatsgewalt eines Tages schwinde.
Seine Begründung: Der Iran sei ein klassischer Vielvölkerstaat, dessen Stabilität weniger auf nationaler Einigkeit als auf zentraler Kontrolle beruhe. Sollte dieser Druck durch einen demokratischen Umbruch oder das Ende des autoritären Systems wegfallen, sei zu erwarten, dass ethnische Minderheiten nach mehr Autonomie oder gar Unabhängigkeit streben würden.
Er nannte dabei mehrere konkrete Beispiele:
- Die Kurden im Westen des Landes, die sich seit Langem ein eigenes Kurdistan wünschen und sich kulturell wie sprachlich vom persischen Zentrum deutlich unterscheiden.
- Die Belutschen im Südosten, die nicht nur ethnisch eigenständig sind, sondern auch dem sunnitischen Islam angehören.
- Die Aserbaidschaner im Nordwesten, deren kulturelle Nähe zum benachbarten Aserbaidschan teils stärker ausgeprägt ist als ihre Identifikation mit dem iranischen Nationalstaat.
- Die Araber in Khuzestan, einer ölreichen, aber strukturell vernachlässigten Provinz, deren Bewohner sich politisch oft marginalisiert fühlen.
Er zog Parallelen zu historischen Beispielen wie dem Zerfall Jugoslawiens oder der Auflösung der Sowjetunion. In beiden Fällen, so meinte er, sei der Zusammenhalt künstlicher Vielvölkerstaaten in dem Moment zerbrochen, als autoritäre Systeme kollabierten und Raum für demokratische Prozesse entstand. Alte Konflikte, zuvor unterdrückt, seien dann mit Macht wieder an die Oberfläche getreten.