@Karrde & andere:
© DIE ZEIT 29.01.2004 Nr.6
Wie man sich in Deutschland kleidet
Kleidung soll vor allem »praktisch« sein. Dass Mode eine Sprache ist und als solche sehr viel über ihre Träger verrät, wird gern übersehen. Daraus folgen jede Menge rührende und entsetzliche Missverständnisse Von Jens Jessen
Kleidung in Deutschland ist ein heikles Thema. Denn ihre Kleidung ist etwas, mit dem sich Deutsche vom Rest der Welt besonders deutlich unterscheiden, mit dem sie besonders schnell und fast überall identifiziert werden und mit dem sie niemals und nirgendwo eine gute Figur machen. Der Deutsche, der nichts lieber hat, als auf Reisen einzutauchen und unerkennbar unterzugehen in fremden Kulturen, sticht in Wahrheit in der Fremde besonders deutlich hervor. Er ist leider nicht nur gezeichnet durch die Verbrechen der Nazizeit, die ihm über alle Generationen hinweg zugerechnet werden, sondern auch durch seine Herrensandalen, Frotteesocken und kantigen Designerbrillen, die er nur allein sich selbst zurechnen kann. Er wird nicht geoutet, er outet sich selbst, weiß aber nicht, wodurch.
Die schreckliche und rührende modische Unbewusstheit des Deutschen hat vor allem einen Grund: Er weiß nicht, dass Mode eine Sprache ist, das heißt, immer ein Ausdruck von etwas. Noch viel weniger ahnen wir, dass Mode auch dann als Ausdruck von etwas gelesen wird, wenn ein solcher Ausdruck gar nicht angestrebt wurde; jedenfalls nicht von uns. Der Deutsche denkt zum Beispiel, dass Kleidung auch unter rein praktischen Gesichtspunkten betrachtet werden kann. Fragte man einen deutschen Mann, warum er Sandalen trage, würde er antworten: Weil es so angenehm sei, wenn die Füße gekühlt werden.
Angehörige romanischer Völker würden sich bei einer solchen Antwort schaudernd abwenden; schon deshalb, weil damit ein Bild schwitzender Füße, ganz allgemein ein Bild hässlicher Kreatürlichkeit, heraufbeschworen wird, von dem Mode ihrem Verständnis nach gerade ablenken soll. Italiener oder Portugiesen würden sich aber noch aus einem anderen Grunde verwundern: weil ihnen der Gedanke gänzlich fremd ist, Schuhe zu Zwecken besserer Transpiration zu wählen. Schuhe sollen ihrer Meinung nach schön sein, das heißt, dem Ansehen des Trägers vorteilhaft, seine erotische Wirkung und soziale Stellung heben und die unvorteilhaften Seiten der menschlichen Natur unterschlagen.
Die Natürlichkeit, die der Deutsche unter den praktischen Aspekten seiner Kleiderwahl gern betont, ist den romanischen Völkern kein Kriterium; darum ihr Entsetzen über die unrasierten Frauenbeine oder Achselhöhlen, die von manchen Deutschen als Beweis der erfolgreichen Emanzipation von gesellschaftlichen Zwängen gefeiert werden. Dazu gehört auch der verbreitete Verzicht auf Make-up und Lippenstift – man spaziere nur einmal, des Kontrastes halber, durch ärmere Viertel Mexico Citys oder São Paulos, um zu beobachten, worauf andere Frauen auch unter erbärmlichen Lebensumständen demonstrativ nicht verzichten. Deutsche Frauen haben offenbar besondere Angst davor, als Sexualobjekt gesehen zu werden, was aber nicht heißt, dass sie deswegen in anderen Bereichen reüssierten. Das Gegenteil ist leider der Fall. Nirgendwo in Europa sind Frauen im Beruf so wenig erfolgreich wie in Deutschland. Möglicherweise verhindert das übermäßige Augenmerk auf die Symbole der Emanzipation die tatsächliche Emanzipation – das nur nebenbei bemerkt.Es ist nämlich keineswegs so, dass jene Deutschen, die das Praktische, Natürliche und Gesunde in der Mode bevorzugen, damit die gesellschaftliche Seite der Mode erfolgreich abgeschüttelt haben. Auch wir sprechen durch unsere Kleidung, aber es ist ein ideologischer, kein ästhetischer Diskurs. Der unrasierte und luftdurchlässig gewandete Deutsche will ein Bekenntnis ablegen: zum Beispiel gegen die Diktatur von Schönheitsidealen, die Herrrschaft des Kommerzes, vielleicht auch die Überschätzung von Äußerlichkeiten. Seine Mode ist Antimode. Es gibt eine mehr als 100-jährige Tradition in der Verachtung äußerer Konventionen, die darüber selbst wieder zur Konvention geworden ist. Seit der Jugendbewegung der vorletzten Jahrhundertwende, vielleicht aber auch schon seit den Pietisten des 18. Jahrhunderts wird sie in regelmäßigen Wellen aktuell; zuletzt in der linksalternativen Bewegung der achtziger Jahre, die jede Form von Eleganz für eine Art Sünde hielt.
Der Tugendbegriff der Antimode ist so eingewurzelt, dass er in seinem ideologischen Charakter längst nicht mehr durchschaut wird. Der Kreuzberger Hausbesetzer, der in monatelangem Ehrgeiz seine Rastalocken filzte und färbte, bis sie an das schwarz-gelbe Fell junger Schäferhunde erinnerten, wird wohl kaum ein Bewusstsein davon gehabt haben, dass er damit kein politisches, sondern ein modisches Bekenntnis ablegte
Zur Unkenntnis des gesellschaftlichen Zeichencharakters gehört auch die verbreitete Meinung, in der Kleidung nichts weiter als seinen individuellen Geschmack zeigen zu können. Der Deutsche, wenn er die Sandalen nicht praktisch begründen will, würde wahrscheinlich stattdessen sagen: »Ich trage gerne Sandalen« – in völliger Verkennung des Umstands, dass dieses Ich damit nicht allein steht, erstens, und dass es zweitens in der Mode nicht um das geht, was man »gern« tut, nach Maßgabe einer inneren Empfindung, sondern um einen sozialen Ausdruck, der sich allgemeiner Zeichen bedienen muss, um verstanden zu werden. In die gesprochene Sprache wird, wer verstanden werden will, auch keine privatsprachlichen Ausdrücke einführen – es sei denn, in der Familie.
Aber das ist es wohl, dass der Deutsche denkt, er sei in der Familie oder könne sich doch so benehmen wie daheim. Er hat keinen Begriff vom gesellschaftlichen Raum. Kleidung in Deutschland muss mutmaßlich nicht als ästhetisches, sondern als soziales Problem beschrieben werden. Die Ausreden, warum Kleidung nicht aus eigentlich modischen, sondern aus praktischen, medizinischen oder rein individuellen Präferenzen gekauft werde, sind zu zahlreich, um nicht verdächtig zu sein. Manches spricht dafür, dass die Zeichen der Mode durchaus gelesen werden können, aber nicht gelesen werden sollen: aus Angst vor einer sozialen Wahrheit, die in dem Klassencharakter der modischen Signale steckt.
Zur Modeabstinenz gehört beispielsweise auch die Schutzbehauptung: »Ich kann es mir nicht leisten, viel Geld für Kleidung auszugeben.« Tatsächlich wird aber für anderes, für Hobbys oder für Autos, unbekümmert Geld ausgegeben. Auch schlägt sich die soziale Hierarchie der modischen Attribute keineswegs im Preis nieder – der Blazer ist nicht teurer als die Bikerjacke, eher umgekehrt. Tatsächlich braucht es nur wenig Beharrlichkeit, um auf eine Angst zu stoßen, die sich am ehesten mit den Worten umschreiben lässt: »Ich bin ein kleiner Mann mit kleinem Einkommen, es kommt mir nicht zu, einen Blazer zu tragen.«
Die Gesellschaft maskiert sich als uniforme Masse
Eine solche Haltung wäre in romanischen Ländern undenkbar. Mit anderen Worten: Es fehlt in Deutschland der Stolz, mit dem der italienische Kioskbesitzer sich selbstverständlich wie ein Graf zu kleiden versteht. Weit davon entfernt, eine klassenlose Gesellschaft zu sein, bildet Deutschland eine Gemeinschaft ängstlicher Untertanen, die sich auch modisch wegducken: nämlich vor dem Zusammenhang von Mode und Gesellschaftsstruktur, der dem deutschen Egalitarismus widerspricht. Selbst der erfolgreiche Aufsteiger muss wenigstens in seinen Lebensgewohnheiten – mindestens in dem, was er auf dem Leib trägt – noch im alten Milieu Bodenhaftung halten; sonst würde ihm übel werden vom Höhenschwindel. Daher haben Aufsteiger oft einen gesteigerten Klassenhass auf »die da oben« – weil ihnen dort oben, wo sie inzwischen angekommen sind, nicht wohl zumute ist. Ballonseide am Steuer des Luxuswagens, Trainingshosen im Garten der frisch erworbenen Villa im Berliner Nobelstadtteil Grunewald sind Ausdruck jener Sehnsucht, die persönlich verlorene Volksverbundenheit – und mit ihr das soziale Gewissen – wenigstens noch einmal im Medium der Kleidung heGründe dafür sind leicht zu finden. Sie liegen in der politischen Entmutigung durch den Egalitarismus, der die Unterschiede, wenn er sie schon nicht beseitigen kann, dann wenigsten nicht zur Anschauung gebracht haben will. Sie liegen in der konfessionellen Entmutigung, in protestantischem Moralismus, pietistischer Innerlichkeit, einer stets neu gepredigten Verachtung des falschen Scheins; vielleicht auch in einem Mangel an ästhetischer Erziehung. Unterschätzt wird allerdings oft, dass es nicht nur einen klassenkämpferischen Affekt gegen die Zurschaustellung von Luxus gibt, sondern auch ein recht delikates bis offen maliziöses Understatement der alten Eliten, die mit einer Art finsterer Genugtuung die Merkmale ihres Status verbergen. Alles zusammengenommen führt zu einer Heuchelei des modischen Ausdrucks, zu einem undeutlichen Flüstern und Murmeln der Kleidungsstile, wo diese in romanischen Ländern sich offen und laut artikulieren.
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Wer sich an eine beliebige großstädtische Straßenecke stellt, um einen Eindruck von den unterschiedlichen Milieus und Stilen zu gewinnen, wird statt ihrer nur einen überwältigenden Eindruck von Konformität gewinnen. Es gibt kleine Zählapparate, die auf Tastendruck reagieren, man kann mühelos zwei bis drei auf einmal bedienen; aber was erfährt man dabei an einem Hamburger U-Bahn-Ausgang im Herbst? Das Verschwinden von Kleid und Rock (getragen von drei Frauen unter 900 Passanten), das Verschwinden von Anzug und Krawatte (zehn Träger), das Ende des langen Stadtmantels (18) und des Straßenschuhs (34). Die gleichen Zählungen wurden in einer Berliner Einkaufsstraße wiederholt; und an beiden Orten noch einmal bei winterlichen Temperaturen. Die Verschiebungen waren minimal. Die überwältigende Mehrzahl beiderlei Geschlechts trägt: Sportschuhe, Hosen, Hemd oder Bluse, darüber eine kurze oder halb lange Jacke.
Die deutsche Gesellschaft, während ihre Einkommensunterschiede dramatisch zunehmen, maskiert sich in der Öffentlichkeit perfekt als uniforme Masse. Um den Kleidungsstilen der tatsächlich weit auseinander strebenden sozialen Milieus nachzuspüren, muss man sie an ihren Orten aufsuchen; aber selbst dort, im großbürgerlichen Salon wie im Sportverein oder in der Theaterkantine, wird man zu großen Teilen auf die nämliche Uniform stoßen, Sportswear, adidas-Streifen, Joggingschuhe; keine Anzüge zusammen mit Krawatte, keine Röcke oder Kleider. Die Statistik des Textilhandels weist für 2002 einen Rückgang von 18 Prozent bei Kleidern und 16 Prozent bei Röcken gegenüber dem Vorjahr aus; außer Jacken und Jeans gerieten überhaupt alle klassischen Teile der Damenoberbekleidung ins Minus.
Diese offenbar gesuchte Uniformität macht es schwierig, das spezifisch Deutsche anders als im Gegensatz zum international Üblichen, nämlich durch eigene Differenzen, zu beschreiben. Selbst die wenigen erkennbaren Milieustile lassen sich nur als Abweichung vom nationalen Mainstream charakterisieren, die konsequenten Schwarzträger, wie sie, ihrerseits uniformiert, seit mehr als 20 Jahren die intellektuellen Bezirke dominieren, die grauen Anzugwelten der Büros, aus denen die gelben Schlipse der Junganwälte und Makler mit der gewünschten Dynamik hervorleuchten, die Blousons der verbitterten alten SED-Kader und der weltreisenden Westrentner, zu denen unbedingt der Herrenschnitt der Gattin gehört, die damit übrigens einmal nicht international isoliert ist. Denselben Herrenschnitt, dazu die fußbequemen Wildlederschuhe trägt die französische Grundschullehrerin auf ihren Busstudienreisen. Weitgehend internationalisiert ist auch die Tweed- und Cord-Mode, die von der Anglomanie vergangener Zeiten auch in Deutschland übrig geblieben ist; sie hat den Charme, im Abstieg des britischen Empire den eigenen sozialen Abstieg, ob er nun schon stattgefunden hat oder noch bevorsteht, unauffällig zu spiegeln.
Eine echte Spezialität dagegen, international wie national gesehen, sind die Ton in Ton Gekleideten, die entweder ganz als Frosch (Grün in Grün) oder als Herbstlaub (Braun in Braun) unter uns wandeln; es sind Sektierer, die mit beispiellosem Ehrgeiz bei Jacke, Hemd, Krawatte und Hose nur Farbvarianten des einen Grundtons dulden, also etwa von Bordeauxrot (das Sakko) über Rosé (das Hemd), Burgunder (die Krawatte) zu Vintage Port (die Hose) eine ganze Weinkarte spazieren tragen. Seine schwierig zu erlangende Erfüllung findet dieser Kleidungsstil in den farblich passenden Schuhen; aber nirgends stehen die Chancen so gut wie hierzulande, einen hellgrauen, cremefarbenen oder türkisfarbenen Herrenschuh zu finden. Wie man denn überhaupt sagen muss, dass zu den unveränderlichen Kennzeichen, an denen der deutsche Mann im Ausland erkannt wird, die hellen Anilinlederschuhe gehören, die bei anderen Völkern nur in der Damenmode vorkommen.
Wieder muss man staunen, mit welcher kindlichen Unbewusstheit hierzulande Missverständnisse in der Mode produziert werden. Die Nähe der pastellfarbenen Schuhe (in Italien auch Nudistenschuhe genannt) zu bestimmten erotischen Signalen, des Herrentäschchens zur Schwulenmode, der stumpf geschnittenen Fingernägel zur Lesbenwelt kann nur in Deutschland unbemerkt bleiben. Nur der deutsche Mann kann glauben, mit einem leuchtend weißen Seidenschal als eine Art Johannes Heesters die Frauenherzen im Sturm zu erobern. Am erstaunlichsten aber ist die Neigung gesetzter Damen zu Nappa- und Reptillederhosen oder knappen Lackoberteilen; als wüssten sie nicht, dass sie dabei auf einer schiefen Ebene zur Lack-Leder-Gummi-Szene unterwegs sind. Die Weltfremdheit, die darin zutage tritt, kann den Beobachter unversehens auf eine Zeitreise in das romantische Butzenscheibendeutschland schicken, wie es mit seiner trauten Unschuld Madame de Staël oder Stendhal beschrieben haben.