Und wer nicht aufpasst, den frisst das Krokodil
Ein Kinderlied stürmt die Charts - und widerlegt so ganz nebenbei die Argumente der Musikindustrie
Von Stefan Steck für ZEIT.de
Seit seiner Veröffentlichung am vergangenen Nikolaustag ist die Welt der deutschen Single-Charts nicht mehr dieselbe. Mit Platz zwölf stieg das Lied am 20.12. in die Top 100 ein, in der folgenden Woche wurde es schon auf Platz drei notiert und seit Beginn des neuen Jahres schließlich führt es die deutschen Charts an: das Kinderlied "Schnappi, das kleine Krokodil". Mit seinem Erfolg hat es sogar die Retortenband und Popstars-Nachfolger Nu Pagadi vom vordersten Platz der Hitliste verdrängt.Dabei hatte zunächst niemand mit einer solchen Entwicklung gerechnet. Der Song wurde schon vor vier Jahren von der Komponistin Iris Gruttmann für ihre damals fünfjährige Nichte Joy, die das Lied auch selbst singt, geschrieben und aufgenommen. Eine Veröffentlichung erfolgte auf einem Album Gruttmanns und in der "Sendung mit der Maus", von wo das Stück 2003 seinen Weg auf einen Sampler fand. Von einer Erstürmung der Charts war zu diesem Zeitpunkt nichts zu spüren.Doch irgendjemandem gefiel es wohl so gut, dass er es als MP3 aufnahm und ins Internet stellte. Dort erfuhr es eine so immense Verbreitung, dass Radiostationen auf es aufmerksam wurden und es schließlich - vermutlich eher scherzhaft - in ihren Sendungen spielten, was von den Hörern begeistert aufgenommen wurde. Auch die Macher der "Sendung mit der Maus" und die Komponistin hörten vom Erfolg ihres Schnappis. Da die Begeisterung des Publikums immer noch anhielt und der Song in den Wunschprogrammen der Sender weiterhin ständig verlangt wurde, beschlossen sie, ihn noch einmal als Single zu veröffentlichen. Die Scheibe führt nun die deutschen Single-Charts an.Damit hat das Stück nicht nur den letzten Rest Glauben vieler an eine gewisse Seriosität des deutschen Musikmarktes zerstört, der ohnehin schon durch die zahlreichen Castingbands und auf Klingelton-Kompatibiliät hin konstruierten Songs schwer erschüttert worden war. Es widerlegte ganz nebenbei auch eines der wichtigsten Argumente der Musikbranche für ein strenges Vorgehen gegen so genannte "Raubkopierer" und die Verbreitung von MP3-Files in Tauschbörsen. Bisher wurde immer davon ausgegangen, dass ein im Internet kostenlos erhältliches Musikstück automatisch zu weniger verkauften Platten führte. Eine Katastrophe war es gar, wenn das Album eines Künstlers schon heruntergeladen werden konnte, noch bevor es in den Läden stand, wie es etwa bei dem US-Rapper Eminem mehrmals vorkam. Dass dieser Zusammenhang nur konstruiert ist, zeigt ebenfalls das Beispiel Eminem: Trotz Vorabversionen im Netz kann er noch immer mit sagenhaften Verkaufszahlen beeindrucken. Wie falsch die Argumentation des deutschen Ablegers des internationalen Verbands der Tornträgerhersteller (IFPI) ist, verdeutlicht nun eben auch Schnappi besonders klar. In der Logik der IFPI wäre ein Nummer-Eins-Hit nach der monatelangen freien Verfügbarkeit des Songs im Netz schlichtweg unmöglich.Offensichtlich müssen sich die Vertreter der Phonoverbände jetzt eine neue Begründung für ihre schlechten Umsätze einfallen lassen. Das Internet und die "Raubkopierer" als Alleinschuldige für die Misere verantwortlich zu machen, zieht nicht mehr. Vielleicht sollten sich die Plattenfirmen ein wenig mit ihrer Strategie auseinander setzen, die zahlreichen Retortenbands auf Massentauglichkeit und größtmöglichen Erfolg zu trimmen. Denn auch das hat das Kinderlied gezeigt: Erfolg lässt sich nicht planen. Man mag sich über die Qualität des Stücks streiten, aber es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass es frischen Wind in die deutsche Musiklandschaft gebracht und die Pläne der Branchenriesen gehörig durcheinander gewirbelt hat.So bleibt zu hoffen, dass in Zukunft mehr Songs und Bands den Sprung aus dem Internet in die Charts schaffen, um den Umgang der IFPI mit dem Netz der Netze zu entspannen und die großen Plattenfirmen zum Nachdenken über das eigene Vorgehen zu bewegen. Es muss ja nicht gleich ein Kinderlied sein.