Du meinst so systematisch wie in der Odenwaldschule oder den amerikanischen Pfadfindern beispielsweise?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mensch, der auf erwachsene Frauen/Männer steht, wegen des Zölibats auf Kinder ausweicht.
Trotzdem ist das Zölibat eine sehr unnatürliche Lebensweise, die Pervertierungen begünstigen kann. Und bei Missbrauch geht es nicht nur ums Ausleben sexueller Neigungen, sondern in erster Linie um Macht. Jemand, der Kinder sexuell missbraucht, muss daher nicht zwangsläufig pädophil sein.
Und ich habe nie bestritten, dass Missbrauch auch in anderen Organisationen gehäuft aufgetreten ist.
Es ging mir im vorherigen Beitrag aber um eine Gegenüberstellung von katholischer und evangelischer Kirche.
Ich persönlich glaube nicht, dass es am Zölibat liegt, sondern dass sich Menschen mit dieser Neigung in Organisationen tummeln, die ihnen Zugriff auf Kinder unter einem Deckmäntelchen sichert (Sportbereich, Jugendorganisationen, Kirchen etc.).
Ja, an der Überlegung ist mit Sicherheit was dran.
Ich denke das allgemeine Macht- und Menschenverständnis wird ein größerer Faktor sein. Religiöse Menschen reden generell schon oft anders über Andere (ich meine hier im Sinne von Othering), wenn sie unter sich sind. Und was gerade in noch engeren, internen Führungskreisen solch einer autoritären Organisation da für eine Sicht auf die Mitmenschen oder die Schäfchen herrscht, wissen wir ja gar nicht. Da müssen ja Absprachen zwischen den Tätern herrschen, denn auch für gute Freunde würde man ja im Nachhinein nur bis zu einem gewissen Grad Straftaten vertuschen helfen, nehme ich mal an.
Es liegt mit Sicherheit nicht nur am Zölibat, das wollte ich auch nicht zum Ausdruck bringen. Es scheint mir aber ein weiterer Aspekt zu sein, der die sehr ungesunden Strukturen innerhalb der kath. Kirche nur noch begünstigt.
Das Menschenbild, das solchen Glaubenssätzen zugrunde liegt, oder umgekehrt von diesen abgeleitet wird, spielt da natürlich ebenfalls mit rein. Ich denke, das bedingt sich alles gegenseitig und lässt sich nur schwer isoliert voneinander betrachten und bewerten.
Dazu kommt auch noch der nicht zu unterschätzende Faktor, dass diese Religion ja nunmal auf Schriften basiert, die einfach ein vollkommen falsches Menschenbild zeichnen, auch und vor allem wenn es um Sexualität geht. Da ist das paulinische Bedürfnis nach Reinheit durch Keuschheit als Vorbild des Zölibats noch das harmlosere Ende der Fahnenstange.
Die Frage ist aber, wie man diese Schriften auslegt und ob man in der Lage ist, die überlieferten Formulierungen in einen moderneren Kontext zu übertragen.
Man darf die Schriften zwar nicht "umschreiben", reduzieren, oder erweitern - man darf und soll sie aber in einer Weise interpretieren, die der heutigen Realität gerecht wird.
Vergewaltigte Jungfrauen gehören gesteinigt, wenn sie nicht um Hilfe schreien, etwa. Lot bietet einem geilen Mob seine eigenen jungfräulichen Töchter an, damit sie seine Gäste in Ruhe lassen. Die Liste lässt sich fortsetzen, aber der rote Faden, dass das (sexuelle) Interesse des Einzelnen im Vergleich zur göttlichen Ordnung oder dem jeweiligen politischen Interesse dieser Ordnung hinten ansteht, zieht sich nunmal durch.
Wir müssen jetzt nicht sämtliche Bibelstellen auflisten, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Ich weiß, davon gibt es reichlich.
Die Bibel ist nun mal auch ein Zeugnis der historischen Umstände, unter denen sie entstanden ist. Ihr Inhalt muss daher dringend in die jeweils aktuelle Zeit gesetzt und aktualisiert werden.
In den Kirchen selbst schreitet diese notwendige Entwicklung leider deutlich langsamer voran als etwa in der Theologie, die sich durchaus darum bemüht, mit der Zeit zu gehen.
Ich selbst bin übrigens weder Mitglied einer Kirche, noch sonderlich religiös im Sinne eines eindeutigen Glaubensbekenntnisses. Was ich hier an Argumenten anbringe, entspringt daher keiner religiös verblendeten Überzeugung, sondern ausschließlich einem Interesse an Religion im Allgemeinen.
Ich denke daher da liegt vieles im Argen, über das viel zu wenig geredet wird. Wenn man es täte, wären die Austrittswellen noch wesentlich größer. Denn nur weil der nette Pastor diese ekligen Passagen nie in der Sonntagspredigt für die Omis benutzt, heißt ja nicht, dass sie nicht rezipiert werden. Da mag man jetzt einwerfen, dass die moderne Theologie da im Sinne der kritischen Exegese viel Ekliges relativiert und so erklärt, dass man es als metaphorische oder historisch-kontextuelle Aussagen begreifen kann. Ich behaupte trotzdem mal frech aus meiner Erfahrung, dass das für viele religiöse Leute relativ irrelevant für ihre Ansichten ist, was im Elfenbeinturm der Theologie gängiger Stand ist. Je wörtlicher die Bibel da verstanden sein will, desto mehr.
Dass sich die Religion generell diesbezüglich in einem enormen Spannungsfeld befindet, ist ein Gedanke, der das Augenmerk glaube ich besser auf die Bruchpunkte lenkt, als die nette Umschreibung, die Kirche müsste mal im 21. Jahrhundert ankommen. Das bedeutet doch nichts, wenn man nicht über die Inhalte redet?
Man muss über die Inhalte reden. Das Problem sind aber nicht die Schriften an sich, sondern das, was die Menschen aus ihnen machen. Und da befindet sich die katholische Kirche meiner Ansicht nach schon in einer Art Zugzwang, nun endlich mal im 21.Jarhundert anzukommen. Andernfalls ist sie zum Aussterben verdammt. Sie entfaltet nämlich nur dadurch Wirkung und Macht, dass es noch (genug) Menschen gibt, die sich an sie gebunden fühlen. Wenn das irgendwann nicht mehr der Fall sein sollte, weil ihnen die Mitglieder zunehmend davonlaufen, wird sie sich irgendwann von selbst erledigt haben.