Wenn ich mir das so anschaue, kann ich mich ziemlich glücklich schätzen. Mich hat Covid-19, um eine Zwischenbilanz zu ziehen, weitestgehend in Ruhe gelassen. Die Minimierung der sozialen Kontakte ist zwar störend, aber aufgrund der (zufälligen) räumlichen Nähe zu vielen Freunden/Bekannten konnten wir uns noch relativ häufig sehen. Bei meinen Eltern sah das schon etwas anders aus, aktuell sehen wir uns aber wieder. Beruflich hat sich auch nicht viel getan: dank Home Office mehr Schlaf, keinen Ärger mit dem ÖPNV und meine Kochbücher lohnen sich endlich. Da mein AG die Krise nicht zu spüren bekommen hat (eher im Gegenteil), sind Bedrohungen wie Kurzarbeit und Entlassungen sehr schnell vom Tisch gewesen. Mir geht's gut.
Das große Gerede, dass die Gesellschaft sich weiterentwickelt und mehr Solidarität entsteht ist wohl bisher ausgeblieben und der Gegenteil scheint mit der Fall.
Ich habe das von Anfang an nur für Tagträume schwärmerischer Weltverbesserer gehalten (damit ist kein User hier gemeint).
Alleine das Verhalten der Hamsterkäufer war damals schon der beste Beweis das dies nur eine Illusion ist.
Unabhängig von der Corona-Krise gibt es immer wieder Situationen im Alltag, die mich mindestens innerlich den Kopf schütteln lassen. Ich kann deinen Argwohn menschlich absolut nachvollziehen, verstehe aber das allgemeine "Gejaule" (no offense) stellenweise nicht. Sich mal Luft zu machen, davon nehme ich mich nicht aus. Wir sprechen hier aber von derselben Gesellschaft, in der ständig über Phänomene wie Gaffer, Hass im Netz, häusliche Gewalt, politisch motivierte Gewalt in summa summarum bedeutenden Fallzahlen diskutiert werden muss. Das fällt in so einer Krise nicht einfach ab, ganz im Gegenteil: hier wird das Nervenkostüm und die Dynamik einer Gesellschaft erst so richtig auf die Probe gestellt.
Trotzdem erlebe ich noch genug gegenteilige Fälle vernünftiger Menschen, die es eben auch in großer Zahl gibt.
Die Corona-Krise ist aus anthropologischer/sozialwissenschaftlicher Sicht ein spannendes Ereignis und ich vermute, dass wir sehr froh sein dürfen, dass dieses Virus nicht härter zugeschlagen hat. Nicht nur, um der Menschenleben willen, sondern auch weil der eher glimpfliche Verlauf einen Vorgeschmack davon gibt, was uns in puncto Sozialverhalten erwartet.
Ich bin zwiegespalten in dieser Frage. Sollten die schrittweisen Öffnungen wissenschaftlich vertretbar sein, dann ist es okay, und ich würde mich freuen, wenn ich mal wieder ein Hefeweizen im Biergarten genießen kann. Eine Restangst, dass uns das vielleicht in ein paar Wochen um die Ohren fliegt, bleibt allerdings.
Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Ministerpräsidenten jetzt reihenweise vollkommen gegen ihre Experten entscheiden. Wahlkampf hin oder her, es geht hier sicher um eine Mischung aus Angst vor noch tiefgreifenderen ökonomischen Folgen, sinkenden Zahlen bzgl. Neuinfektionen und hinzukommend stark aufgerüsteten Kapazitäten in der Gesundheitsversorgung.
Ob das am Ende besonnendes Kalkül, Glück oder ein Harakiri ist, sehen wir dann. Trotz teilweise bizarrer Szenen vor Möbelhäusern und in Parks sprechen die Kennzahlen des RKI aus den letzten Tagen jedenfalls nicht für Letzteres.