„Die afghanischen Taliban – Organisation, Strategie und Taktik“
Im Rahmen meiner Beschäftigung mit dem Afghanistan-Konflikt seit 2001 habe ich Quellen zu den afghanischen Taliban ausgewertet und möchte meine Ergebnisse kurz präsentieren. Anmerkung: In dem folgenden Text ist der Einfachheit halber von „den Taliban“ die Rede. Damit sind die verschiedenen, in Vorgehen und Ideologie teilweise stark voneinander abweichenden Gruppen in Afghanistan gemeint, die unter diesem Sammelbegriff zusammengefasst werden. Die genannten Beispiele beruhen hauptsächlich auf Berichten aus der Provinz Kandahar.
Organisation und Hierarchie
Die Taliban sind in der Regel wie folgt organisiert: Die kleinste Einheit ist ein „delgai" (abgeleitet von „dala", was „Gruppe" bedeutet). Ein Delgai besteht normalerweise aus 10 Mann, kann aber aus auch nur 5 Mann oder bis zu 20 Mann bestehen. Sie werden von einem Kommandanten angeführt, der mit seinen Untergebenen in irgendeiner Form bekannt, verwandt oder verschwägert ist, sie durch Charisma für sich sich gewonnen hat oder mit ihnen im Krieg gekämpft und so Freundschaft geschlossen hat („andiwal"). Mit dem Delgai stehen zudem Unterstützer wie beispielsweise Schmuggler, Informanten und Bombenbauer in Kontakt. Delgai operieren häufig in einem bestimmten Gebiet und planen und führen ihre Aktionen ohne Anweisungen einer höheren Hierarchie aus, der Kommandant entscheidet. Wenn ein Kommandant sich dazu entschließt, den Kampf einzustellen, folgen ihm seine Gefährten meist, umgekehrt verlassen einzelne Taliban die delgai nur selten, wenn ihr Kommandant dies nicht auch tut.
Im Kampf kann ein delgai in bis zu drei kleinere Feuertrupps aus je 3 bis 7 Mann aufgeteilt werden.
Gruppen von delgai (10 oder mehr) unterstehen einem regionalen Kommandanten, der über großen Einfluss verfügt. Diese Regionalkommandanten planen größere Aktionen, koordinieren sich mit anderen Regionalkommandanten und stehen im Kontakt mit der Führung in Pakistan. Sie sind sehr mobil und meist erfahrene und angesehener Kämpfer Größere Gruppen von Regionalkommandanten bilden eine Front („mahaz"), die über ein großes geographisches Gebiet verteilt sein kann, weshalb einzelne Kommandanten meist recht unabhängig agieren.
Wird der Kommandant eines delgai getötet oder verhaftet, löst sich die Einheit entweder auf oder schließt sich anderen an. Manchmal übernimmt jedoch ein Bruder oder Cousin oder der Stellvertreter des Kommandanten diese Rolle und führt die Einheit weiter. Die Kommandanten haben Stellvertreter, die ihren Platz einnehmen, wenn sie z. B. unterwegs sind, um Freiwillige anzuwerben.
Wichtiger als diese formelle Struktur sind informelle Beziehungen und Kontakte, alte Freundschaften und gemeinsame Erfahrungen sowie Verwandtschaft, besonders mit der Führung in Pakistan (Quetta in Westpakistan gilt als "Hauptquartier" der Taliban). Auch die regionale, sprachliche, religiöse und familiäre Verwurzelung eines Kommandanten ist enorm wichtig, er muss zum „richtigen“ Clan gehören und in der Region Ansehen genießen, in der er aktiv ist.
Die Stärke der Taliban ist eng mit der Erntezeit in Afghanistan verknüpft, während der Erntezeit sind die meisten ihrer Kämpfer wieder „Zivilisten“ und auf den Feldern, um so sich und ihre Familien zu ernähren. Deshalb werden in dieser Zeit meist keine größeren Aktionen durchgeführt.
In den Provinzen haben die Taliban "Schattenregierungen" als Gegenstück zur afghanischen Regierung etabliert. Diese besteht aus einem "Schattengouverneur", der als Verbindung zu der Führung in Pakistan agiert, die Aufsicht über alle Aktivitäten in der Provinz hat und mit Akteuren außerhalb der Taliban (z. B. den Medien) zu tun hat. Der Gouverneur wechselt in der Regel jedes Jahr. Ihm zur Seite stehen ein aus den Anführern der kämpfenden Gruppen bestehenden Rat und ein Gremium für religiöse Angelegenheiten. Die Trennung zwischen den beiden letztgenannten Organisationen ist nicht strikt und absolut, häufig überlappen sie sich.
Kampftaktiken
Generell meiden die Taliban den Kampf eher und ziehen schnelle, kontrolliert Überfälle vor, bei denen sie dem Feind einige Verluste zufügen und sich dann rasch zurückziehen, um nicht im Kampf „festgenagelt“ zu werden. Kommt es zum Kampf, nutzen die Taliban (schwere) Maschinengewehre, um den Gegner unter Druck zu setzen und an Ort und Stelle festzuhalten, während improvisierte Sprengsätze (IEDs), reaktive Panzerbüchsen wie die RPG-7 und rückstoßfreie Geschütze dazu verwendet werden, tatsächlich konkrete Verluste zu bewirken. Gewehre und Sturmgewehre dienen dabei hauptsächlich als Schutz und Unterstützung für diese Primärwaffen.
Eine häufig verwendete Taktik ist es, den Delgai aufzuteilen, ein Feuertrupp lockt in schwierigem Gelände den Feind durch lautstarkes Feuer aus einer gut geschützten Position in eine vorbereitete Falle, beispielsweise in einen mit Sprengsätzen versehenen Bereich und/oder in die Reichweite eines zweiten Feuertrupps. Über zuvor sorgfältig ausgekundschaftete Wege können sich die Trupps wenn nötig rasch zurückziehen oder ihre Position verlagern.
Sollte der Feind nicht in die Falle laufen, nagelt ein Feuertrupp den Feind mit Maschinengewehren fest, um ihn abzulenken und zu beschäftigen, während ein zweiter Trupp sich getarnt in eine günstige Position für den Angriff mit Raketenwerfern, Panzerbüchsen oder Scharfschützengewehren begibt. Wenn es irgendwie möglich ist, versuchen die Taliban dabei, den Feind zu flankieren. Sobald sie ihren Angriff ausgeführt und dem Feind Verluste zugefügt haben, ziehen sich die Taliban so schnell wie möglich über die vorbereiteten Fluchtwege zurück.
Um die feindliche Überlegenheit an Feuerkraft zu negieren, versuchen die kampfstärkeren Taliban-Einheiten bei dem dem Feind Zweifel säen, ob es sich bei ihnen um Kämpfer oder Zivilisten handelt (z. B. durch das Verbergen von Waffen bis zum letzten Moment), bewegen sich rasch durch ein Netzwerk von zuvor angelegten Befestigungen und Unterschlüpfen und wechseln im Kampf ständig die Position, um nicht erfasst zu werden. Teilweise wird auch versucht, möglichst nah am Feind zu kämpfen, um diesen aus Angst vor Eigenbeschuss vom Einsatz von Artillerie und Luftunterstützung sowie tragbaren Mörsern und fahrzeuggestützten Waffen (Schützen- und Transportpanzer) abzuhalten.
Die Qualität der Taliban-Kämpfer schwankt stark und reicht von unerfahrenen, kaum ausgebildeten und schlecht schießenden Kämpfern, meist Bauern, die sich nur zeitweise an den Gefechten beteiligen und sich meist nach wenigen Schüssen in die Richtung des Feindes zurückziehen, bis hin zu zu taktisch und strategisch geschulten Veteranen, die eine militärische Ausbildung durchlaufen und in vielen Kämpfen Erfahrung gesammelt haben. Diesen Veteranen werden meist die schweren Waffen anvertraut, mit denen die meisten Verluste bewirkt werden, und sie treten als Kommandanten und Anführer auf.
Kämpfe laufen meist so ab, dass ISAF-Truppen oder die afghanischen Sicherheitskräfte zu Patrouillen oder größeren Operationen ausrücken und dabei zunächst auf Luftunterstützung und Artillerie verzichten, weil die Taliban erst einmal abwarten und sich unter die Zivilbevölkerung mischen. Sobald die Taliban der Ansicht sind, dass sie stark genug sind, sammeln sie zuvor vorbereitete Ausrüstung und Waffen, begeben sich in Position und greifen wie oben geschildert an und versuchen, den Feind in Hinterhalte zu locken. Wenn ihnen das nicht gelingt und sie zu lange an Ort und Stelle bleiben, erleiden sie die meisten Verluste nicht durch Kleinwaffen, sondern durch präzisionsgelenkte Bomben und Raketen (Luftunterstützung und Artillerie).
In den letzten Jahren haben sich die Taliban immer stärker auf alternative Taktiken verlegt, um verlustreiche Kämpfe zu vermeiden. Dazu gehören der Einsatz von Selbstmordattentätern, hauptsächlich gegen zivile Ziele, Platzieren von improvisierten Sprengfallen, Verkleiden als Angehörige der Sicherheitskräfte, Überfälle auf Checkpoints und Außenposten der afghanischen Sicherheitskräfte, Attentate auf Angehörige der Verwaltung, Unterwanderung der Sicherheitskräfte, um über bevorstehende Einsätze rechtzeitig informiert zu sein, und Unterstützung für sogenannte Innentäter, also Soldaten und Polizisten.
Finanzierung
Es ist jedem Kommandanten selbst überlassen, wie er seine Einheit abgesehen von Zahlungen der Führung in Quetta finanziert. Gängige Einnahmequellen sind der Verkauf von gestohlenen Fahrzeugen und Beute nach erfolgreichen Aktionen, Schmuggel und Verkauf von Benzin, Zigaretten und ganz besonders Opium, Spenden von mit ihnen sympathisierenden Dörfern oder wohlhabenden Einzelpersonen, Schutzgelderpressung und „Steuern" z. B. für Händler, Opiumbauern oder NGOs. Aus diesen Einnahmen wird der Kauf von Waffen und Munition sowie weiterer Güter bezahlt, die Kämpfer erhalten zudem unregelmäßig Geld, um ihr Überleben zu sichern. Dieser „Sold“ (die Taliban sehen diese Zahlungen nicht als Entlohnung an) beträgt zwischen 50 und 100 Dollar pro Kämpfer und Monat, diese Zahl kann jedoch stark schwanken.
Propaganda auf nationaler und internationaler Ebene
Ebenso haben die Taliban ihre Propagandabemühungen massiv verstärkt und nutzen dafür Massen-SMS, das Internet (samt eigener Website und Propagandavideos z. B. von Hinrichtungen und Statements von Gefangenen), mit ihnen sympathisierende Geistliche und Dorfälteste, ebenso entsenden sie Werber, meist in der Region angesehene Persönlichkeiten, um auf Dorfebene Propaganda zu verbreiten. Jede Taliban-Gruppe besitzt einen eigenen Sprecher, der sich um die Kontaktaufnahme mit nationalen und internationalen Medien kümmert und z. B. die Verantwortung für Angriffe verkündet oder Ereignisse kommentiert. Ebenso werden Magazine, Flugblätter, Tonbänder und DVDs verbreitet und Gegner durch anonyme Drohbriefe und Anrufe an ihr Zuhause eingeschüchtert.
Der in der Taliban-Propaganda auf nationaler Ebene verbreitete Narrativ besteht darin, die ausländischen Truppen und die Regierung in Kabul zu diskreditieren. So wird beispielsweise behauptet, das Ziel der ISAF-Mission sei es, alle Afghanen zum Christentum zu konvertieren, ebenso werden erfundene Meldungen über Koran-Verbrennungen verbreitet. Auf subtilere Art wird beispielsweise über Korruption oder zivile Opfer berichtet, um Zweifel und Hass zu schüren, dabei werden oft tatsächliche Ereignisse verzerrt, verfälscht oder übertrieben dargestellt, um den Narrativ der Taliban zu stärken, die sich selbst als Verteidiger des Islam, der afghanischen Unabhängigkeit und Kultur und Streiter gegen fremden Einfluss und Korruption sowie Zentralstaatlichkeit aus Kabul präsentieren.
Auf internationaler Ebene versuchen die Taliban, sich als „Underdog“ und Opfer sowie Kämpfer für eine gerechte Sache zu präsentieren und zum einen in der islamischen Welt Unterstützung (z. B. Spenden und Freiwillige) für ihre Sache zu gewinnen und zum anderen in der Bevölkerung der gegen sie kämpfenden Staaten die Ablehnung dieses Engagements zu stärken. Zu diesem Zweck werden häufig Videobotschaften von Geiseln und Gefangenen verbreitet, die Statements im Sinn der Taliban verlesen, ebenso werden regelmäßig beispielsweise Tonbandbotschaften von Taliban-Anführern oder Erklärungen der oben genannten Sprecher veröffentlicht, in denen diese entsprechende Äußerungen beispielsweise zu neuen Offensiven und zivilen Opfern tätigen. Ebenso wird darauf geachtet, westliche Massenmedien rasch mit Bildern und eben solchen Statements zu versorgen, um deren Berichterstattung z. B. über getötete oder verwundete Soldaten im Sinn der Taliban zu beeinflussen.
Gesamtstrategie der Taliban und mögliche Gegenmaßnahmen
"Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit" - mit dieser Parole werden die Taliban in Afghanistan zitiert und sie fasst ihre Gesamtstrategie recht gut zusammen. Das Vorgehen der Taliban besteht darin, als Organisation und politischer Machtfaktor in Afghanistan zu überleben und so lange durchzuhalten, bis die ausländischen Truppen aufgrund von Verlusten an Menschen und Material, hohen Kosten und mangelnde Unterstützung für den in ihren Heimatstaaten unpopulären Einsatz aus Afghanistan abziehen. Dann können die Taliban entweder wieder ganz die Macht übernehmen oder sich mit der afghanischen Regierung arrangieren und die Kontrolle über das Land aufteilen. Zu diesem Zweck halten sie den Druck mit regelmäßigen Terroranschlägen und medienwirksamen Offensive (meist im Frühjahr) aufrecht, um durch spektakuläre Aktionen ihren Machtanspruch zu untermauern und zu beweisen, dass sie „noch da“ sind.
Vermeiden lässt sich dieses Szenario, indem man das militärische Engagement in Afghanistan so lange fortsetzt, bis sich das Vertrauen in die afghanische Regierung und die Sicherheitskräfte durchgesetzt hat und diese in der Lage sind, die Taliban alleine im Schach zu halten. Gleichzeitig muss das Aufbauprogramm für Afghanistan weitergehen, um durch eine funktionierende Infrastruktur, wachsenden Wohlstand, Bildung und Stabilität den Taliban die Rekrutierungsbasis zu entziehen.
Quellen:
Talibanistan: Negotiating the Borders Between Terror, Politics, and Religion, von Peter Bergen und Katherine Tiedemann (Primärquelle zu Organisation und Hierarchie, Englisch)
Fundamentalism Reborn?: Afghanistan and the Taliban, von William Maley (zur Frühzeit der Taliban, Englisch)
The Character of War in the 21st Century, von Caroline Holmqvist-Jonsäter und Christopher Coker (Englisch)
War, von Sebastian Junger (Bericht eines Journalisten, der ein amerikanisches Bataillon in Afghanistan 2007 bis 2008 begleitete, Englisch)
http://www.deutschlandfunk.de/afgha...armzeichen.694.de.html?dram:article_id=332590 (Deutsch)
http://content.time.com/time/world/article/0,8599,1895496,00.html (Artikel über Taliban-Propaganda, Englisch)
https://www.theguardian.com/world/2008/jun/17/afghanistan.nato (Artikel über eine Offensive im Jahr 2008, Englisch)
Als weitere Quelle dienten Berichte eines kanadischen Afghanistan-Veteranen im Forum „spacebatttles.com“
https://forums.spacebattles.com/posts/42074203/ (Englisch) Ich habe diese mit anderen Quellen verglichen, um ihre Wahrheitsgehalt zu überprüfen, und habe keine signifikanten Widersprüche gefunden, weshalb ich die darin genannten Punkte in den Text übernommen habe. Die geschilderten Taktiken fanden sich auch in den anderen Quellen wieder. Für die Person des Forennutzers kann ich aber keine Garantie übernehmen.