Tirahnn

[Tirahnn - Wald zwischen Rhovan und Tirahnn] Mellah und Draen

Der Tag in der Strickerei schien für Tel'Set eine Art Dreh- und Angelpunkt zu sein. Für Mellah selbst war diese Operation nicht "schicksalhaft" gewesen, aber ihre Voraussetzungen waren völlig anders. Er war nicht viel jünger als sie, aber die paar Jahre machten vielleicht schon einen Unterschied.
Sie musste dann lächeln, als er begann, diese Erfahrungen wissenschaftlich zu erklären. Ja, so hatte sie ihn in Erinnerung. Aber all das würde ihm nicht helfen, vielleicht sogar im Gegenteil.


"Ich glaube", sagte sie dann langsam, in der Hoffnung, ihn nicht falsch zu verstehen oder einen falschen Ratschlag zu erteilen, "dass Sie... zu logisch an die Sache herangehen. Denken Sie nicht über das warum nach - sondern nur, über das 'dass'. Dieses Ereignis hat Sie schwer erschüttert, und das ist in Ordnung. Sie konnten diese Erfahrung außerdem mit niemandem teilen, daher... wiederholt sie sich immer und immer wieder. Was, denken Sie, sollten Sie aus diesem Ereignis lernen? Gehen Sie die Momente mit mir durch, falls Sie möchten."

Er wiederholte quasi, was sie versuchte, ihm klarzumachen, und diesmal lächelte Mellah auf bestätigende Art und Weise und nickte.

"Ja. Genau. Diese Situation war katastrophal, aus professioneller Sicht genauso wie aus empathischer. Ich handelte... blind. Ich hatte beinahe nichts außer meinen Instinkten. Und dann kommt hinzu, dass wir noch nicht einmal wissen, ob der Aqualish in einem Krankenhaus überlebt hätte, mit allen Mitteln, die dort zur Verfügung stehen. Vielleicht hätte er. Vielleicht. Aber... er war nicht dort, er lag bei uns, und selbst, wenn wir das Risiko eingegangen wären, ihn zu transportieren, seine Chancen wären mit jeder Minute gesunken. Und zusätzlich hätten wir weitere Leben riskiert.
Ja, ich wünschte manchmal, ich wüsste, was ich hätte anders machen können - einfach, um es beim nächsten Mal zu wissen. Solche Erfahrungen sind frustrierend. Bloß... ich weiß, dass ich keine andere Wahl hatte. Und Sie auch nicht."


Es war an der Zeit, sich für ihre Entscheidung zu entschuldigen. Sie wusste nicht genau, ob die Berührung an seinem Bein angemessen war oder nicht, aber sie sprachen über solch beinahe schon intime Dinge, dass sie das Gefühlt hatte, ihm auch auf diese Weise harmlos näher zu kommen.
Seine Worte waren freundlich, und es beruhigte Mellah, dass Tel'Set ihre Handlung von damals so sah und es ihr nicht vorwarf. Immerhin war sie seine Vorgesetzte gewesen. Es war... keine kluge Entscheidung gewesen, aus mehreren Gründen, das wusste sie heute. Und
diese Entscheidung würde sie gewiss anders treffen.

"Ich danke Ihnen."

Es war nicht selbstvertändlich, dass er diesen Blickwinkel einnahm. Aber vielleicht hatte sie tatsächlich etwas in ihm ausgelöst, dass ihn irgendwann einmal auf einen bestimmten Weg führen würde? Sie wusste selbst nicht, ob sie es ihm wünschen würde.
Dann nickte sie, während sie ihre Hand wieder zurückzog. Ja, die Vergangenheit formte sie, machte sie zu dem, was sie waren - und was sie zukünftig sein würden. Nicht alles, was Mellah erlebt hatte, war positiv gewesen, und doch war sie dadurch zu der Person geworden, die nun hier stand, bereit, ihren Planeten gegen das Imperium zu verteidigen. Etwas, das in der Schule damals niemand jemals von ihr, der zurückhaltenden Mellah Tahefel, gedacht hatte. Sie hatte sich weiterentwickelt - und dafür waren auch die vielen Fehlschläge verantwortlich.

Sie gab ihm sein Lächeln zurück.


"Ich würde mich freuen, wenn unser Gespräch Ihnen geholfen hat und ich wenigstens einen kleinen Stern habe aufleuchten lassen können."

Es kehrte eine kurze Stille ein zwischen ihnen, aber sie war nicht unangenehm. Mellahs Herz hatte sich längst beruhigt - Tel'Set hatte ganz sicher keinen Hinterhalt geplant, seine Intentionen hinter diesem Treffen waren ehrlich und aufrecht. So genoss Mellah die paar Sekunden zwischen den Bäumen, in welchen der Wind die Blätter leise rascheln ließ und die Vögel im Hintergrund riefen, bevor Tel'Set sie wieder ansprach.
Sie zögerte kurz, um die richtigen Worte zu finden.


"Ich... habe seit heute... unbezahlten Urlaub genommen. Ich brauche gerade ein wenig Zeit, um mich zu sortieren."

So wenig sie glaubte, dass er etwas böses im Schilde führte, sie würde ihm garantiert nicht auf die Nase binden, was sie und ihr Bruder befürchteten.

"Deshalb bin ich aktuell nur außerklinisch unterwegs und der Einfachheit auch dort anzutreffen. Haben Sie... besondere Pläne, wenn ich fragen darf?"

Vielleicht wollte er sich ihnen ja anschließen, auch, wenn Mellah nicht glaubte, dass er diese Entscheidung so schnell treffen würde. Nicht nach diesem Gespräch.

[Tirahnn - Wald zwischen Rhovan und Tirahnn] Mellah und Draen
 
|*| Harad |*| Frachtbezirk |*| Straßen |*| Velyra |*|


Der nächste Abend legte sich kühl über Harad. Velyra Kajne ging mit gesenktem Kopf durch die schmalen Seitenstraßen, die Kapuze des Tuchs tief in die Stirn gezogen. Die Weste lag eng am Oberkörper, das dunkle Tanktop verschwand unter dem Stoff; taktische Hosen, leise Stiefel, ein schmaler Rucksack. Nichts an ihr fiel auf, außer dem Rhythmus ihres Schrittes, zweckmäßig, ruhig, bereit umzudrehen, wenn ein Schatten zu lange mitlief.
Lagerhaus 7 lag am Rand des Frachtbezirks, dort, wo die Laternen seltener wurden und die Luft nach Staub und altem Metall roch. Eine einzelne Tür, mattes Licht dahinter. Velyra klopfte dreimal kurz, einmal lang. Eine Klappe im Türblatt ging auf – ein Auge, gedämpftes Misstrauen.


„Ich suche Tarek.“

Sagte sie leise.

„Ich komme von Rauhhand.“

Ein Riegel schob sich zurück. Die Tür öffnete sich einen Spalt, dann weiter. Drinnen war es kühler; Regale warfen breite Schatten. Ein Mann löste sich aus dem Dämmer: mittleres Alter, kräftige Hände, das Gesicht wie von ständigen Preisverhandlungen geformt.

„Tarek.“

Stellte er knapp fest.

„Du bist pünktlich.“

Velyra nickte, zog das Tuch zurück.

„Und du hoffentlich zuverlässig.“

Er deutete in einen Seitengang. Am Ende stand eine kleinere Kiste auf einer Palette, versiegelt, mit grob überpinschtem Etikett. Tarek legte eine Hand auf den Deckel.

„Energieflussgenerator. Serie N-4, funktionsgeprüft. Teuer.“

„Teuer ist relativ.“

Erwiderte die junge Tirahnnerin freundlich und blieb einen halben Schritt außerhalb seiner Distanz.

„Ich hatte eher auf angemessen gehofft.“
Er nannte eine Zahl, die im Raum hängen blieb wie kalte Luft. Velyra lächelte – dieses Lächeln, das sie selbst nicht mochte, das jedoch selten versagte.

„Das ist der Preis für jemanden, der verzweifelt ist. Ich bin nur… motiviert.“

Tarek musterte sie.

„Motivation senkt keine Kosten.“

„Manchmal schon.“

Velyra trat näher, ließ die Fingerspitzen über eine abplatzende Stelle am Kistenrand gleiten, als prüfe sie die Versiegelung. Ihre Stimme blieb leicht, als erzähle sie eine Nebensächlichkeit.

„Es ist ein Geschenk für meinen Vater. Er sammelt alte Technik. Ein ehrlicher Mann, der selten um etwas bittet.“

Ein warmer, unaufdringlicher Blick.

„Mach mir den Preis, bei dem ich mir nicht anhören muss, ich hätte zu viel bezahlt.“

Er zog die Braue hoch.

„Ein Geschenk. Für den Vater.“

Die Skepsis schimmerte in seinen Augen, aber sein Ton wurde weicher.

„Oder du zahlst, und wir sind beide glücklich.“

„Oder…“

Setzte Velyra an.

„…wir sind beide zufrieden. Ich zahle weniger, du bekommst dafür… Aufmerksamkeit, die sich rechnet.“

Sie ließ die Worte einen Herzschlag wirken, dann fuhr sie ruhiger fort, als hätte sie die Pointe gar nicht beabsichtigt.

„Ein reservierter Tisch im Silver Comet an einem belebten Abend, zwei Runden aufs Haus, keine neugierigen Nachbarn. Und ein Tanz, nur für deinen Tisch. Still. Ohne Namen.“

Ihre Lippen zuckten zu einem Hauch von Versprechen, das eher in der Vorstellung als im Raum lag.
Tareks Mundwinkel bewegten sich.


„Ein Tanz zahlt keine Fracht.“

„Ein Tanz bringt sie dir.“

Entgegnete sie sanft.

„Und die richtigen Leute mit. Die, die später mehr kaufen als einmal N-4. Denk an Folgekosten – und Folgekunden.“

Sie neigte den Kopf, ließ das Licht die Kanten ihres Gesichts zeichnen.

„Ich kann dafür sorgen.“

Eine Pause; irgendwo tickte eine alte Uhr. Tarek sah zur Kiste, dann zu ihr.

„Zwei Runden. Reservierter Tisch. Und du tanzt. Dafür senke ich um…“

Er nannte eine neue Summe, deutlich tiefer.

„Und du holst das Ding jetzt vom Hof.“

Velyra ließ das Lächeln heller werden, obwohl in ihr etwas leise zusammenzuckte – diese Routine, Charme wie Wechselgeld hinzulegen.

„Abgemacht.“

Dies war ein wichtiger Schritt gewesen.


|*| Harad |*| Frachtbezirk |*| Straße |*| Velyra und Gäste |*|
 
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