Das IFSH (Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik) beispielswiese hat einiges zum Thema geschrieben und da gibt es ein paar wesentliche Punkte, die meiner Meinung nach tatsächlich dazu hätten beitragen können, die Situation zu verbessern.
Das ist eine kompetente Analyse, die tatsächlich einige der zentralen Herausforderungen in Afghanistan akkurat erfasst. Sie hat allerdings eine eklatante Schwäche:
Wie sollen Lösungen für diese Herausforderungen durchgesetzt werden wenn zumindest ein Teil der örtlichen Bevölkerung dagegen bewaffneten Widerstand leistet und sogar bereit ist, Terrorakte gegen ihre Landsleute zu verüben, um ihr eigenes, fundamental entgegengesetztes Gesellschaftsmodell durchzusetzen?
Ich greife dazu gerne folgenden Punkt auf und versuche, diesen mal an einem Beispiel durchzuexerzieren.
Vielleicht wäre es wichtig, Afghan:innen selbst zu ermächtigen: Ihnen nicht irgendetwas vorzusetzen, sondern ihnen zu zeigen, wie sie mit eigenen Mitteln Dinge verbessern können.
Hilfe zur Selbsthilfe ist hier ein Stichwort.
Szenario:
"In einem Dorf in Afghanistan arbeiten seit einiger Zeit seit Helferinnen und Helfer einer NGO mit Einverständnis der örtlichen politischen und religiösen Führer daran, Mädchen den Schulbesuch zu ermöglichen - natürlich nur unterrichtet von Frauen und getrennt von Jungs. Teile der Bevölkerung stehen dem Projekt feindselig oder ablehnend-skeptisch gegenüber, aber es hat zumindest genügend Überzeugungskraft entwickelt, dass ein Gebäude gebaut, Lehrerinnen und Lehrer angestellt und die ersten Schülerinnen eingeschult werden. Auf die kulturellen Bedürfnisse der Region nimmt man dabei soweit es möglich ist Rücksicht. Eines Tages tauchen bewaffnete Männer auf - darunter auch einige bekannte Gesichter aus dem Region, vielleicht sogar Nachbarn und Bekannte derer, deren Kinder die Schule besuchen. Unverhohlen machen sie deutlich, dass sie einen Schulbetrieb nicht tolerieren werden.
Fortgang 1: Die Drohung wirkt, die Schule wird geschlossen.
Fortgang 2: Der Betrieb wird fortgesetzt, und einige Tage später stürmen die Bewaffneten die Schule, erschießen das Personal und zwingen die Schülerinnen unter vorgehaltener Waffe dazu, nach Hause zurückzukehren. Angesichts der Sicherheitslage stellt die NGO ihre Arbeit ein, die örtlichen Befürworter des Projekts ziehen ihre Unterstützung eingeschüchtert zurück..."
So. Problem mangelnde Bildung erkannt. Versuch einer Lösung in für die Region akzeptabler Form und unter Mitwirkung von Teilen der Bevölkerung unternommen. Versuch durch bewaffneten Widerstand von Teilen der Bevölkerung verhindert. Ergebnis: Keine positive Veränderung.
Man kann die Schule in diesem Beispiel durch einen Markt ersetzen (wirtschaftliche Entwicklung), eine Polizeistation (Rechtstaatlichkeit), ein Rathaus (politische Teilhabe und Überwindung des Tribalismus), man kann sie durch jede beliebige Institution ersetzen (inklusive der gerne belächelten Brunnen); eines aber bleibt gleich: Wenn die Versuche nicht in irgendeiner Form von der Bereitschaft zur Absicherung Abschreckung und dem Einsatz von militärischer oder polizeilicher Gewalt begleitet werden, dann werden sie von jenen Kräften vor Ort verhindert, die zum Einsatz eben dieser Gewalt bereit sind. In anderen Worten: Die Taliban gewinnen.
Es ist in diesem Kontext wichtig, sich vor Augen zu halten, dass in Afghanistan
nicht versucht wurde, den Menschen ein völlig fremdes Gesellschaftsmodell aufzuzwingen und sich quasi die ganze Bevölkerung dagegen gewehrt hätte. Nein, im Gegenteil. Aus Beachtung der religiösen Prägung des Landes speiste sich die Rechtsordnung in weiten Teilen aus der Scharia (teils in einer Form, bei der man als eher säkular eingestellter Zeitgenosse ordentlich Bauchschmerzen bekommen kann). Die Regierung delegierte viel Macht an örtliche Gouverneure, um den zersplitterten Charakter des Landes gerecht zu werden. In den Sicherheitskräften gab es Quoten, damit die verschiedenen Ethnien einigermaßen repräsentiert werden. Gerade auf dem Land waren die Veränderungen eher zaghaft, aber sie waren da. Das lässt sich noch eine ganze Weile fortsetzen. Was in Afghanistan versucht wurde, war eine graduelle Verschmelzung dessen, was gerne als "westliche Werte" verteufelt wird, mit der Tradition des Landes und seiner Bewohner.
Wenn "der Westen" einem Land helfen möchte, sollten nicht westliche Interessen im Vordergrund stehen.
Durchaus
kann man mit einem "aufgeklärten Selbstinteresse" argumentieren. Ein wirtschaftlich prosperierendes Afghanistan, dessen Bevölkerung in einer islamisch-konservativen, aber nicht fundamentalistischen und vom fanatischen Hass auf alle "Ungläubigen" geprägten Gesellschaftsordnung lebt und frei von der Angst von ständigen Anschlägen ist, exportiert weder Terror noch Gewalt, sorgt für eine stabilere Region und wird sich außenpolitisch eher in eine pro-westliche Richtung orientieren. Davon haben die Menschen in
Afghanistan etwas, davon haben seine Nachbarstaaten etwas, davon hat der Westen etwas, davon hat die ganze Welt etwas. Was "dort drüben" passiert, hat früher oder später "hier" Konsequenzen.
Ein Beispiel:
1950 bis 1953 versuchte das kommunistische Nordkorea, sich Südkorea einzuverleiben. Dagegen griff damals die UN militärisch ein. Nordkorea wurde besiegt, Südkorea blieb bestehen und entwickelte sich über Jahrzehnte von einer bitterarmen Militärdiktatur zu einer wohlhabenden und funktionierenden Demokratie. Das ist eine positive Entwicklung für das Land, für die Region, und es ist eine positive Entwicklung für die Welt.
Und da kommt auch ein Punkt ins Spiel, der hier schon einige Male genannt wurde. Ja, das Thema Waffenlieferungen ist wichtig. Ja, gerade die leichtfertige Vergabe von Lizenzen zum Nachbau und allzu schnelle Genehmigungen beim Export führen auch dazu, dass Staaten und nichtstaatliche Akteure an Kriegsgerät gelangen, die es besser nicht tun sollten, weil damit furchtbare Taten begangen werden. Aber wenn deutsche U-Boote an den demokratischen Staat Südkorea geliefert werden und durch die Stärkung seines Abschreckungspotentials helfen, einen derartigen Akteur wie Nordkorea von militärischen Aktionen abzuhalten, dann sorgen diese Waffen nicht für mehr Gewalt, sondern
weniger.
Die bloße Tatsache, dass er
da ist, und das Sturmgewehr in den Händen eines ausländischen oder afghanischen Soldaten hat auch dazu geführt, dass die Taliban eben nicht die Schule aus dem Beispiel zerstört haben. Nun sind die Soldaten fort - und keines der Probleme, mit denen Afghanistan konfrontiert ist, ist dadurch verschwunden, im Gegenteil. Niemand kann doch wirklich glauben, dass die neuen Machthaber wirklich zu Kompromissen willens oder fähig sind. Noch wird in die Kameras gelächelt, aber im Hintergrund (so ausreichend dokumentiert, siehe jüngste Meldungen über das komplette Verbot des Universitätsunterrichts für Frauen) schafft man bereits Tatsachen. Diese Entwicklung hätte verhindert werden können, sie ist nicht das Ergebnis eines wie auch immer gearteten Schicksals, sondern von politischen Entscheidungen - und den Schuh für diese Entscheidungen muss man sich anziehen (wie auch für die Konsequenzen einer anderen Vorgehensweise).
Man muss das gar nicht so großen weltpolitischen Maßstäben aufziehen. Wenn in Deutschland radikale und extremistische Gruppierungen unter Einsatz von Gewalt versuchen würden, Rathäuser zu stürmen, weil sie die freiheitlich-demokratische Grundordnung ablehnen und zerstören wollen - ja, was passiert dann? Es gibt eine Polizei, die Waffen besitzt und zu deren Einsatz berechtigt ist, und im Fall ihrer Überforderung gibt das Grundgesetz auch den Einsatz der Bundeswehr her. Fern sollte jedem Demokraten die Verherrlichung von Gewalt liegen, und die zivile Einbindung und Kontrolle solcher Institutionen gehört sich, ihre Existenz entbindet nicht von Punkten wie Bildung, Wertevermittlung und Dialog - aber im Fall des Falles sorgen sie dafür, dass solche friedlichen Mittel überhaupt möglich sind und nicht einfach gewaltsam ausgemerzt werden.